Von Dirk Tölke
Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen. Das tun die Künstler abseits touristischer Intentionen in erstaunlich vielen Varianten von Bildgruppen: Collage, Sampler, Archiv, Filmsequenzbildfolge, Blockbildung. Was die bewegt, die sich bewegen, lässt sich offenbar besser in Reihen darstellen, um Komplexität und Erfahrungsmenge zu vermitteln. Reisen bildet und macht tolerant, heißt es. Gerade eingeschränkt und unter ökologischen Fußabdruckgesichtspunkten ist das wieder als Privileg und als unter Spaltungsinteressen verminderter Globalisierungsentspannungsaspekt spürbar. Dazu kommen verstärkt wirtschaftlicher und klimatischer Mobilitätsdruck und Massentourismusprobleme. Da schafft die Ausstellung Übersicht und geht ans Grundsätzliche. Der kostenlose Reiseführer und der von Marie Gentges betriebene Blog erleichtern den Weg.
Entdeckungsreise, Kopfreise, politische Reise, Forschungsreise und letzte Reise sind die Kapitel überschrieben. Mit der Frage, was Künstler heute treibt, wo Neuland gesucht, Grenzen überwunden werden, sind 100 Werke von 60 Kunstschaffenden seit den 1960er Jahren gruppiert. Aufbruch ist das Wesenselement einer Reise. Entdeckungsreisen suchen Impulse, Sinneseindrücke, Selbsterkenntnis. Wege und Straßenräume werden Thema, Wegbeschreibungen, Kartenmaterial, Reisenotizen aller Art, Pilgerfahrten, U-Bahn-Erschöpfte, Streckenverläufe, Fotos auf Schlafsackstoff. Die Bildungsreise kann auch reine Kopfreise sein, etwas Gelesenes oder Bildmaterial. Die Fantasie reist mit, die Naturgesetze bleiben zurück. Da wird geträumt, gesehnt, erlebt in früheren Epochen, Zukunftswelten oder fernen Ländern. Fiktiv, imaginär, konstruiert, so wie die Zukunft. Da wird Vergessen erprobt, Abstraktes und Reales verquickt, handschriftliche Reiseberichte in flimmernder Mikroschrift zum Hintergrundrauschen unverstandener Kultur. Mondkartenmarkierungen und Buchtitel erfahren ungewohnte Neuordnung. Die Lebenserfahrungsreise wird zur Kartenprojektion. Als digitale Kommunikation wird Privates öffentlich, ein Rad kreist um sich selbst. Das Päckchen, das jeder im Leben trägt, wird Rucksackinhalt, der Ballast an Vorurteilen und Klischees erfährt ironische Überzüchtung, reiseunwillige Antinomaden posieren in ihren heimischen Gefilden, Selfies von Blinden zweifeln an Motiv und Verhaltensmuster, der eigene Standort wird zum Punkt auf der Karte.
Politische Reisen dokumentieren bedenkliche Zustände der Welt. Missstände, Krisengebiete ergeben schonungslose Bilder zerrütteter Gesellschaft. Absurde Grenzen und Mauern, vom Globus wegradiert oder als einträgliche Stacheldrahtproduktion. Sinnlos ertrunkene Flüchtlinge als blaues Kleidungsmeer, Fluchtgründe als Motiv auf Flüchtlingskleidung gestickt. Ein imaginärer Staat voll Gedankenfreiheit, Perspektivwechsel. Als Forschungsreise wird Wissenschaft und Maschinenwelt in den Fokus gerückt. Befunde, Verbrauchsmaterialien (Taucherflaschen) inszeniert wie früher Performance-Relikte oder als Piktogrammschautafel gemaltes Siedlungsverhalten als Landschaftsausschnittkomponente. Endzeitliches findet sich nicht, wohl weil alle unterwegs sind und die Hoffnung zuletzt stirbt. Aber Sterben müssen wir alle, daher thematisiert die letzte Reise weltweite Begräbniskultur, persönliche Grenzerfahrungen, Mythologeme, Friedhofsleben, letzte Wünsche und Endlichkeit. Reisende soll man zwar nicht aufhalten. Hier aber lohnt ein Zwischenstopp, beziehungsweise ein Aufbruch zur Anreise ins Ludwig Forum. \
bis 11.4.
„Bon Voyage. Reisen in der Kunst der Gegenwart“
Ludwig Forum für Internationale Kunst
Aufgrund des erneuten Lockdowns bis voraussichtlich 10. Januar 2021 bitten wir Sie, sich beim jeweiligen Veranstalter über Öffnungszeiten und mögliche Terminänderungen zu informieren.
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