Von Dirk Tölke
Mindestens seit den 80er Jahren finden Architekturstudierende im Rahmen ihrer Ausbildung eher zufällig und individuell den Zugang zur Glasmalerei als eines der Gewerke, die im Rahmen von Kunst am Bau erst nach der Entwurfsphase Berücksichtigung finden, wenn überhaupt. Sie wird dann vorurteilsbehaftet eher als Konkurrenz zum eigenen Entwurf empfunden.
Die noch vom Bauhaus propagierte und in der Nachkriegszeit durchaus gelungene Zusammenarbeit verschiedener Gestalter in gemeinsamer Abstimmung ist durch die Verschulung von Bachelor und Master inzwischen noch schwieriger zu erreichen.
Raumbezogene Gestaltungen
Die Hierarchien von Form- und Werkmeistern, bzw. von Entwerfenden und Ausführenden und die Ablehnung von Dekor und Ornament spielt historisch eine Rolle, aber auch Unkenntnis von den Entwicklungen etwa in der Glasmalerei, die keineswegs mehr nur eine an Kirchenfenstern und religiöser Thematik orientierte Ausrichtung hat.
In einer Architekturlandschaft, die so intensiv mit Glasflächen arbeitet, wie kaum vorher, erstaunt es, wie wenig nicht nur Industrieglasvarianten, sondern auch raumbezogene Gestaltungen von Glasmalerinnen und Glasmalern genutzt werden, die nicht von der Stange und im laufenden Meter zu haben sind.
Schritt ins 21. Jahrhundert
Die klassische Bleiverglasung in mosaikhafter Manier ist ja schon länger überlagert von Entwürfen und Experimenten mit großen Sicherheitsglasflächen, auf die Schmelzfarben, Ätzungen, digitale Vorlagen oder spiegelnde Oberflächen hochpräzise aufgetragen werden können.
Durch das Richterfenster im Kölner Dom (2007) ist glücklicherweise die Glasmalerei wieder in die öffentliche Diskussion geraten. Im deutschen Glasmalereimuseum in Linnich zeigt der französische Glasmaler und an der Münchener Akademie der Künste arbeitende Schaffrathschüler Thierry Boissel, wie die durch seinen Lehrer weltweit vorangebrachte architekturbezogene Glasmalerei mit industrieller Technik und digitaler Gestaltung den Schritt ins 21. Jahrhundert macht.
Helligekeitswerte steuern
Seine mit teils freien Ringstrukturen oder anderen Rastermustern beschichteten Glasflächen bilden Korridore, in denen sich analoge Muster auf Wandtapeten mit Durchblicken und Spiegelungen überlagern und neue Raumerfahrungen ermöglichen.
Anderweitige Raumabwicklungen durchaus auch in Kirchen und nicht nur in öffentlichen Bauten, sind durch farbige Tupfer akzentuiert, die wie vergrößerte Aquarellierungen wirken, und im Verlauf mehrere Fenster an Größe zunehmen und dabei auch die Helligkeitswerte des Raumes steuern. Die Farbwerte sind wie Buchstaben codiert und als Worte übersetzbar: Farbgedichte, die zum Erlebnisraum werden können.
Thermische Verformung
Neben diesen Beschichtungen und Bemalungen von Einscheibensicherheitsglas treten aber auch auf der Basis von digitalen Entwürfen und gerasterten Photographien entstandene explizit glasbezogene Arbeiten auf, bei denen statt einer Schwarz-Weißzeichnung etwa einer Personengruppe, die unterschiedliche Dicke einer durch Schmelzprozesse zu einer Reliefglasplatte gewordenen Scheibe im Durchlicht zu Hell-Dunkel-Unterschieden führt, die beim Vorbeigehen die Darstellung auftauchen und verschwimmen lässt.
Auf diese thermische Verformung hat Thierry Boissel ein Patent. Im veränderlichen Licht bilden Punkt und Linienmuster Möglichkeiten zu zahllosen fotorealistischen Bildern.
Fortführung der Wand
Ein Bildkatalog dokumentiert die Vielfalt an schlichten, aber wirksam belebenden Eingriffen durch Farben, Strukturen oder Texturen, die zu zeitgemäßen, interaktiven, abstrakten und figürlichen Lösungen führen, die die Glasmalerei als Fortführung der Wand mit anderen Mitteln aufzeigt und als Mitwirkung an der Raumatmosphäre eine Bereicherung gestalterischer Möglichkeiten in der Lichtregie darstellt.
Der jüngst erschienene Band „Meisterwerke der Glasmalerei des 20. Jhs. im Rheinland“ bildet die Vielfalt allein der hiesigen Region in trefflichen Fotos ab.\
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