Es ist Samstag, halb zwölf. Die Sonne scheint auf den Asphalt. Nur selten fährt ein Auto über den Pontwall. Aus der Unterführung, die Turmstraße mit Intzestraße und Wüllnerstraße verbindet, weht ein kühler Wind. Es riecht nach Untergrund und Beton. Unter der Straße klappert und rollt es, als würde dort schwer gearbeitet. In kantigen Großbuchstaben hat jemand über den Eingang der Unterführung geschrieben: Life is a Rollercoaster. Wie auf einer Holzachterbahn geht es unterirdisch auch zu. Auf Skateboards gleiten und rattern Mädchen und Frauen im Alter von sechs bis 39 von Wand zu Wand, über hölzerne Rampen und im Kreis um die Mittelsäule der Unterführung, die hier liebevoll „Unti“ genannt wird.
Inmitten der Graffitis des Aachener Künstlers Señor Schnu, neben der mit Plakaten beklebten Mittelsäule der Unterführung steht María Voth Velasco. Maria hat an der Hogeschool Zuyd Modedesign studiert und hat erst spät mit dem Skaten angefangen. Sie trägt Skaterschuhe und ein weit geschnittenes weißes T-Shirt. Das Motiv: eine skatende Schildkröte mit einem gezwirbelten Horn auf dem Kopf - das Logo ihrer eigenen Slow Fashion Mode Turtlehorn. Velasco rief das Projekt „Girlsskate Aachen“ ins Leben. Das Ziel: Mädchen und Frauen in einen Sport zu integrieren, der immer noch hauptsächlich von Jungs und Männern dominiert wird. Ursprünglich startete das Projekt im Workshop-Format, doch schnell wurde klar, dass die Nachfrage nach einem sicheren Raum, in dem Mädchen und Frauen in einer Gemeinschaft skaten lernen können, groß war, und das Ziel, Mädchen in die Skateszene zu integrieren, Ausdauer erforderte. Deswegen gibt es die Girlsskate-Gruppe bereits seit zwei Jahren. In Kooperation mit der Bleiberger Fabrik Aachen bietet Velasco Skaterinnen einen Raum sich auszuprobieren und dazuzulernen. An jedem letzten Sonntag des Monats wird das Projekt Girlsskate mittlerweile auch durch das Angebot Flinta-Skate ergänzt. Die Abkürzung „Flinta“ steht für Frauen, Lesben, intersexuelle, nicht-binäre, trans und agender Personen – also für Personen mit unterschiedlichen Geschlechtsidentitäten, die in der Skateszene unterrepräsentiert sind. Unterstützung für das Projekt fand Velasco nicht nur bei den Organisationen WomenWin und The GoodPush, sondern bald auch von Darius Krzyminski von der Skateschool Aachen. Darius ist professioneller Skater und skatet, seitdem er 13 Jahre alt ist. Nach dem Aufbau diverser Rampen und Hindernisse, sogenannter obstacles, verteilt Krzyminski Sticker seiner Skateschool und seines Skatelabels.
„Aufwärmen!“, ruft Velasco. Die Teilnehmerinnen stellen sich im Kreis um ihre Trainerin auf. Sie tragen Helme und Schoner an Ellenbogen, Knien und Händen, Skate- oder Turnschuhe, weite T-Shirts, Jeans oder andere längere Beinbekleidung, die vor Schürfwunden schützt. Die Skaterinnen drehen ihre Schultern, dehnen ihren Nacken, lassen ihre Fußgelenke kreisen, um Verletzungen so gut es geht vorzubeugen. Dann teilen sich die Teilnehmerinnen in zwei Gruppen auf: Die Anfängerinnen gehen mit Krzyminski, die Fortgeschrittenen bleiben bei Velasco und wagen sich an die Rampe. Manchmal, wenn die Mädchen auf der hölzernen Rampe stehen und das Board mit einem Fuß hochhalten, sieht man, dass es sie Überwindung kostet, auch den anderen Fuß aufs Board zu stellen, das Gewicht zu verlagern und die Rampe runterzubrettern. Man kann aber auch sehen wie stolz und glücklich die Mädchen sind, die sich überwunden haben, die mutig waren, es geschafft haben. Zufrieden gleiten sie durch den Raum: mit dem festen Lächeln einer Bezwingerin. Auch Velasco findet, dass das einer der schönsten Momente beim Skaten ist: wenn man besser wird. Wenn man merkt, dass der Trick, der neunundneunzigmal nicht geklappt hat beim hundertsten Mal endlich glückt. Damit der Trick auch endlich gelingt, braucht es neben Mut und Willen auch ein großes Maß an Geschicklichkeit, Sprungkraft und Balance.
Kontrolle über den eigenen Körper und Kontrolle über das Skateboard zu gewinnen, übt Krzyminski mit den Anfängerinnen. Sie stehen auf den bloßen Brettern der Skateboards. Die Rollen sind abmontiert. Sie üben richtig zu stehen. Sie üben das Balancehalten. Dann drehen sie sich auf den Brettern im Sprung: „Die Schultern nach hinten drücken“, ruft Krzyminski. „Die Schultern nach hinten drücken, wie eine Ballerina!“
Dann kracht es. Ein junges Mädchen, das bisher durch besonders großen Mut und große Risikobereitschaft aufgefallen ist, liegt auf dem Boden. Das Brett rollt Richtung Wand. Sie ist gestürzt, sie hat sich erschrocken, sie weint. „Jeder Schmerz macht dich immer stärker“, ruft
Krzyminski ihr zu. Er ergänzt: „Du bist ’ne Harte.“ Das Mädchen steht auf, nimmt sich eine Auszeit, setzt sich auf die Treppe. Sie redet nicht. Verarbeitet den Schmerz und den Schreck, ist ganz bei sich. Nach einer kurzen Auszeit steigt sie wieder aufs Brett und ahnt noch nicht, dass sie bald wieder stürzen wird. Dass Krzyminski ihr wieder sagen wird, dass der Schmerz sie stärker macht, dass sie sich wieder resigniert auf die Treppe setzen wird. Sie ahnt aber auch noch nicht, dass die Frustrationspause beim nächsten Mal kürzer sein wird. Dass sie weniger weinen wird, und dass sie noch schneller als dieses Mal wieder aufs Brett steigen wird. Dass sie keine Gedanken an das nächste Mal verschenkt, scheint das Geheimnis ihres besonders großen Mutes zu sein.
Dabei ist sie nicht die einzige, die stolpert und stürzt. Alle Mädchen fallen mal vom Board oder springen ab, um Schlimmeres zu verhindern. Oder sie lassen das Brett hinter sich und laufen mit dem aufgenommenen Schwung ein paar Meter zu Fuß. Stürze und Schürfwunden gehören genauso zum Skaten wie die Freude über den ersten geglückten Ollie (einen Sprung, bei dem das Brett in der Luft unter den Füßen der Skaterin bleibt). In der Skategruppe der Girls lernt jede Teilnehmerin in ihrem eigenen Tempo. Einige üben ehrgeizig Sprünge, einige gleiten Runde um Runde durch den Untergrund, andere sitzen am Rand, unterhalten sich, gucken sich gemeinsam am Handy die Tricks berühmter Skaterinnen an. Die Gruppe basiert auf einer Basis der Freiwilligkeit und der Gemeinschaft. Man kann üben, wozu man sich bereit fühlt oder am Rand sitzen und den anderen zusehen und einfach nur die Gesellschaft einer Gruppe genießen, die die gleichen Interessen hat und es gut miteinander meint.
Eine der Teilnehmerinnen erzählt, dass sie froh ist, dass es die Gruppe gibt, denn als Anfängerin in den Skatepark zu gehen, wo die Jungs durch den Pool rasen und risikoreiche Tricks machen, das hätte sie sich anfangs nicht getraut. Man ist verletzlich und unsicher, wie jeder, der etwas zum ersten Mal macht. Man fürchtet die Blicke der Könner, die auf der eigenen falschen Fußstellung festkleben. Man fürchtet, sie könnten einen für ängstlich und untalentiert halten. Doch am meisten fürchtet man, sie könnten zum Beispiel sagen: „Typisch Mädchen“. „Einmal sind wir aber in einer Frauen-Gruppe zum Skatepark gegangen“, erzählt die gleiche Teilnehmerin. „Das war eigentlich ganz cool. Als die Jungs uns gesehen haben, sind sie auf uns zugekommen, und haben uns gesagt, dass sie sich darüber freuen, dass wir da sind. Wir haben zusammen ein paar Tricks geübt und hatten eine gute Zeit. Am Ende wusste ich gar nicht mehr, wovor ich anfangs so eine Angst hatte.“ Dennoch sei sie froh darüber, dass es die Girlsskate-Gruppe gibt. Nicht nur, weil sie sich sonst (wie viele andere Anfängerinnen) immer noch nicht in den Skatepark getraut hätte, sondern auch, weil sie innerhalb der Gruppe Gleichgesinnte kennenlernte und Freundinnen fand.
Während von Gemeinschaft gesprochen wird, steht ein junges Mädchen zum ersten Mal auf einer höheren Rampe. Ihre Körperhaltung sagt, sie ist bereit, ihr Blick sucht den Raum ab. Sie zögert. Eine andere Teilnehmerin kommt angefahren, springt von ihrem eigenen Brett und hält dem Mädchen wortlos ihre Hand hin. Bietet ganz selbstverständlich Hilfe dort an, wo sie dringend gebraucht wird. Das junge Mädchen greift sofort nach der Hand: Die Mädchen scheinen ein Gespür füreinander zu haben. Obwohl das Skaten ein Sport ist, bei dem man manchmal ganz bei sich ist, scheint diese kleine Skaterinnengemeinschaft eine Gesellschaft zu sein, in der man unsichtbare Antennen ausfährt: Man versteht sofort, dass jemand Hilfe braucht oder in Ruhe gelassen werden möchte. Es wird deutlich: Dieser Mikrokosmos ist ein Ort, der Konkurrenz, Missgunst und strengen Wettbewerb ausklammert. Ein Ort der gemeinsamen Sache, an dem man das Miteinander lebt, ohne darüber zu sprechen. Das junge Mädchen traut sich, die Rampe herunterzufahren. Am anderen Ende der Unterführung applaudiert jemand. \ von Katrin Krause
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