Dieter Spoo, Pastoralreferent der Citykirche: „Die Menschen werden besinnlicher.“
Die Nikolauskirche ist anders als andere Kirchen in Aachen – so steht es auf der Homepage der Citykirche in der Großkölnstraße, die als ökumenisches Gotteshaus von der katholischen und evangelischen Kirche gleichermaßen getragen wird. Neben Konzerten und anderen öffentlichen Veranstaltungen sprechen besonders die thematischen Gottesdienste zu Scheidung, Demenz oder Suizid Menschen an, die nicht zur üblichen Gruppe der Kirchgänger gehören. „Wir geben Akzente ohne konfessionelle Richtung“, erklärt Pastoralreferent Dieter Spoo.
Dazu gehört auch die so genannte Sprechzeit: An drei Wochentagen bieten Kirchenmitarbeiter die Möglichkeit zur vertraulichen Auseinandersetzung an; abseits von Büßerhemd und Beichtstuhl können verzweifelte Menschen um Rat bitten oder auch nur ihr Leid in Worte fassen. Obwohl das Angebot das ganze Jahr hindurch genutzt wird, ist vor Weihnachten regelmäßig ein Anstieg der Besucher zu verzeichnen. „Die Menschen werden besinnlicher – oder wenigstens sensibler, was die zwischenmenschlichen Beziehungen angeht.“ Diese sind nämlich der hauptsächliche Grund für das intime Gespräch. Probleme rund um die Ehe, die Beziehung, das Zusammenleben. „Bei älteren Menschen geht es auch oft um Vereinsamung“, sagt Spoo. „Das Gefühl des Alleinseins verstärkt sich in der Vorweihnachtszeit, Erinnerungen an vergangene Feste mit der ganzen Familie werden wach.“ Häufig sitzen den Seelsorgern auch stadtbekannte Gesichter gegenüber, Menschen, die sich an verschiedenen Stellen ehrenamtlich engagieren. „Plötzlich wird einem bewusst, dass diese Leute ein ganz einsames Leben führen. Das ganze Jahr über opfern sie sich für andere auf, doch vor Weihnachten hinterfragen sie ihr eigenes Dasein.“
In den vielen Jahren seiner Tätigkeit als Pastoralreferent hat Dieter Spoo einige traurige Geschichten gehört. Nebenher hat er ein Gespür für die Wahrheit entwickelt, das die Lüge sofort erkennt. „Es kommt immer wieder vor, dass sich Leute mit hanebüchenen Geschichten Geld erschleichen wollen. Diese Menschen wollen nur Geld, andere Hilfsangebote lehnen sie ab und verstricken sich in immer wildere Ausflüchte.“ Wie der Mann, der aus England kam und ein neues Gebiss brauchte, die Frau, der Geld für ein Zugticket fehlte, und die vielen anderen mit geklauten Fahrrädern, Autos, Brieftaschen. Doch so ärgerlich diese erlogenen Geschichten auch sind, sie zeigen auch eine Facette der Not. „Keinem Menschen sollte verwehrt sein, um Hilfe zu bitten“, sagt Spoo. „Besonders nicht zur Weihnachtszeit.“
Ludger Engels, Regisseur, thematisiert in „An den Wassern zu Babel“ die Frage nach dem Glauben
„Das Alte Testament ist die Grundlage dreier Weltreligionen: Judentum, Christenheit und Islam.“ Regisseur Ludger Engels bezieht sich auf sein aktuelles Stück „An den Wassern zu Babel“. „Die Fragen, die uns bei der Inszenierung beschäftigten, sind: Wie entsteht Glaube? Wie wurde er niedergeschrieben? Und: Wie wird er verteidigt?“
„An den Wassern zu Babel“ passt gleichermaßen in die Vorweihnachtszeit wie zum aktuellen Spielzeitmotto „Glaube, Hoffnung, Liebe“. Während sich die letzte Saison mit der Bewältigung der Wirtschaftskrise („Krise! Welche Krise?“) auseinander gesetzt hat, steht nun die Rückkehr der Religionen „oder gar Gottes“ im Raum, wie es Ralph Blase in seinem Programmhefttext schreibt.
Umgesetzt hat Ludger Engels die komplexe Materie durch eine Collage von Texten des polnischen Autors Tomasz Man, der prominente biblische Figuren wie Noah, Abraham und Mose und ihre inneren Konflikte sowie ihre Verantwortung gegenüber der Religionsgeschichte beleuchtet. Der musikalische Schwerpunkt liegt auf Psalmvertonungen des französischen Barockkomponisten Michel Richard de Lalande sowie Felix Mendelssohn Bartholdy, desweiteren Kompositionen von Edgar Varèse und Oliver Messiaen.
„Wie groß muss Abrahams Glaube gewesen sein, dass er bereit war, seinen Sohn zu opfern?“, fragt Engels. „Welche Motivation trieb Kain zum Brudermord? Eifersucht? Enttäuschung?“ Mans Texte spinnen die bekannten Geschichten hypothetisch weiter und offenbaren in Anekdoten und Zwiegesprächen von der üblichen Bibelauslegung abweichende Ansichten. Dabei will „An den Wassern zu Babel“ keine Antworten auf bestehende Fragen liefern – außer vielleicht einer: das Schicksal des Menschen liegt in seinen eigenen Händen, Gott ist nicht verantwortlich für die Taten seiner Schäfchen.
„Religiosität sollte abgekoppelt von der Religionszugehörigkeit verstanden werden“, meint Engels. „Viele Menschen können gerade mit dem Papst nichts mehr anfangen, obwohl sie nach wie vor glauben. Ich finde, man kann auch ohne Kirche gläubig sein.“ „An den Wassern zu Babel“ versteht sich nicht als ein Lehrstück für den christlichen Glauben, die Religionen werden auf Augenhöhe behandelt. Passend zu diesem Ansatz bekommt in jeder Vorführung eine andere Religionsgemeinschaft die Möglichkeit eines Beitrages.
Katholisch erzogen, doch nicht im traditionellen Sinne gläubig, treiben Engels gerade in der Zeit vor dem heiligen Fest immer wieder die existentiellen Fragen nach dem Sinn des Daseins um. „Ich würde meine Religiosität eher Spiritualität nennen, das Bedürfnis, in dieser Welt seine Rolle zu finden.“
Polizistin Marion Marx wird zu Einbruch und Familienstreit gerufen
Auf einige Dinge kann man sich zu Weihnachten verlassen: dass Aldi genug Dominosteine im Sortiment hat, dass die Glotze mindestens drei Monumentalfilme mit Charlton Heston bringt und dass die Polizeiwachen auch an Heiligabend besetzt sind. Marion Marx hat in ihrer 22-jährigen Laufbahn schon so einige Male an den Festtagen auf der Wache oder im Streifenwagen gesessen. „Bei uns kommt jeder mal dran. Natürlich achten wir darauf, welcher Kollege Familie hat, für den wäre es ja schlimm, wenn er nicht nach Hause kann.“ Weil die 40-Jährige keine Kinder hat, wurde sie in der Vergangenheit schon mal öfter verdonnert, die Stellung zu halten. „Dieses Jahr habe ich allerdings Frühdienst.“
Doch wer ruft am Heiligen Abend eigentlich die Polizei, und warum? „Wer denkt, dass an den Feiertagen ruhiger Dienst angesagt ist, irrt sich“, sagt Marx. „Während in der Vorweihnachtszeit unser Hauptaufgabengebiet im Bereich Verkehr liegt, werden wir an den Festtagsabenden oft gerufen, weil es zu Hause Streit gibt.“ Und so traurig es klingt, die meisten Adressen sind den Beamten schon bekannt. „Gerade in sozialen Brennpunkten kommt es hin und wieder zu lautstarken Auseinandersetzungen“. Dabei nennt Marx die Streithähne fast freundschaftlich „unsere Pappenheimer“. Hier ist die Gewaltspirale nur schwer aufzuhalten, wenn zu Weihnachtsgans und Christstollen auch genügend Alkohol gereicht wird. Dazu kommt, dass sich die ganze Verwandtschaft auf der Pelle sitzt, oftmals auch die, die man das ganze Jahr nicht sieht, vielleicht nicht sehen will. Doch der Aufruhr ist meist nicht von Dauer. „Fast immer reicht es, dass wir kurz Präsenz zeigen und um Ruhe bitten.“ In einigen Fällen muss eine Person aus der Wohnung entfernt werden, um die Gemüter zu beruhigen.
Doch es rufen auch verzweifelte Menschen an, die ihre Einsamkeit nicht mehr aushalten. Meist ältere Leute ohne Angehörigen, oder schlimmer: mit Angehörigen, die sich nicht kümmern. „Da fehlen einem schon mal die Worte. Aber wichtiger ist es, sie reden zu lassen“, sagt die Oberkommissarin. Oft ist es damit schon getan, der Kummer gebannt.
Bis vor einiger Zeit waren Marx und ihre Kollegen auch für Einbruchsdelikte zuständig, ein Ressort, das jetzt bei der Kriminalpolizei liegt. „Organisierte Banden machen sich gerne ans Werk, wenn die Leute in der Kirche sind“, weiß die Beamtin. „Heiligabend ist bevorzugt.“ Der Freund und Helfer kommt dann meistens zu spät. Ab und an wird noch ein krimineller Nachzügler im Haus oder in der Wohnung gestellt. Wer glaubt, dass die Beamten in diesem Fall nach Tatort-Manier mit gezückter Waffe vorgehen müssen, liegt falsch. „Die Einbrecher stehen fast immer irgendwo in der Ecke oder hocken im Schrank.“ Ohne Gegenwehr lassen sie sich abführen.
Von Einbrecherbanden und zerstrittenen Familien mal abgesehen, macht sich die Weihnachtszeit vor allem positiv bemerkbar. „Wir beobachten eine besinnliche Stimmung bei den Menschen, wenn es auf die Festtage zugeht“, sagt Marx. Sie selbst freut sich besonders, dass sie sich dieses Jahr nicht um die Stimmungen anderer Leute kümmern muss. Dieses Mal kann sie selbst mit ihrer Familie feiern.
Text: Sebastian Dreher
Fotos: Lutz Bernhardt / Sabine Hausmann
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