Von Manfred Kistermann
Sie haben ihre Straßennamen mitgenommen – und ihre Toten auch: Auf dem Friedhof von Morschenich-Neu im Kreis Düren sitzt Agnes auf ihrem Rollator. Ihr Mann hätte heute Geburtstag, 89 wäre er geworden. Er starb vor zehn Jahren, als es damals schon hieß, das Dorf werde der Braunkohle vom Tagebau Hambach weichen müssen. Eine Frau gesellt sich zu Agnes und fragt, wie es so gehe. „Och, jo“, ist lediglich die Antwort, aus der keine Freude spürbar ist.
Die neue Heimat ist keine mehr. Vor fünf Monaten ist Agnes mit ihren Kindern umgezogen. Seitdem leidet die Seniorin. „Hier im neuen Morschenich gibt es nichts für uns Alte, keine Begegnungsstätte, mit dem Bus zu fahren ist mühsam. Die Kinder müssen zur Arbeit, man ist allein. Nachbarschaft wie früher findet kaum mehr statt.“
Eine ebenfalls umgezogene Seniorin bestätigt dies. Für sie verstecken sich die Menschen in dem Neubaugebiet, das eher einer Musterhaus-Ausstellung ähnelt, hinter Zäunen, abgedichtet durch breite, blickdichte Plastikbänder. Hier, wo sich Bauhaus- und Gutsherrenstil die Hand geben, scheint das Miteinander auf der Strecke geblieben zu sein.
Ähnliches berichtet Hans-Josef Dederichs. Er hat aus familiären Gründen das bedrohte Dorf Kuckum im Kreis Heinsberg verlassen und lebt nun in Kuckum-Neu. Der Polizeibeamte und langjährige Vorsitzende einer Bürgerinitiative gegen die Braunkohle hilft ehrenamtlich Umsiedlern. „Die meisten der Umsiedler sind finanziell zufrieden“, sagt er. Es habe aber auch viele Probleme gegeben, speziell für Bauern und diejenigen, die bislang einen großen Garten hatten. Einiges konnte dank vieler Interventionen geregelt werden. Unter Sozialaspekten aber sei alles weniger als rosig. „Es wird viel Einsamkeit gezüchtet.“
Derzeit stehen in Kuckum 45 von 120 Häusern leer, aber nur 13 Familien hätten sich in Kuckum-Neu niedergelassen – manche hinter hässlichen Zäunen. Da das neue Dorf zusammen mit anderen Umsiedlungsorten wie Borschemich-Neu nahtlos ineinander übergeht, keime Hoffnung auf eine neue Gemeinschaft auf. Die Kirche will angeblich ein Begegnungszentrum schaffen.
Es habe viel Streit gegeben wegen des Tagebaus – gehen oder bleiben, das sei oft die Frage gewesen, so Dederichs. Jeder habe seine Gründe. Wer gegangen ist, den habe wohl das jahrelange Hin und Her mürbe gemacht. „Wir alle sind Opfer“, meint er, der seinem alten Ort immer noch eng verbunden und als Chef der Schützenbruderschaft im Vereinsleben verwurzelt ist. Auch wenn er umgesiedelt ist, bleibt er als Ratsherr der Grünen im Erkelenzer Stadtparlament weiterhin ein Kämpfer. „Jeder Quadratmeter Land, den wir nicht an den Tagebau abgeben, ist ein Gewinn.“ Für ihn geht es um Natur, Menschenschicksale und Heimat: Die Niersquelle, die viele Vereine heimatverbunden in ihrem Namen tragen, dürfe nicht einfach verschwinden. Es geht für ihn darum, die guten Böden „nicht zu verbrennen“ und aufzuzeigen, „dass die Braunkohle ein Irrweg ist“. Und wenn die Heimat tatsächlich erhalten bliebe? „Dann werden selbst ältere Häuser ihre Käufer finden“, ist der Kuckumer sicher.
In Keyenberg, dem ebenfalls bedrohten Nachbarort von Kuckum, steht in der noch aktiven Bäckerei der Handwerker zwischen frischen Fläden und Broten. Die Laumanns versorgen mit ihrem Backmobil alle Ortschaften in der Umgebung. Auch der junge Mann aus der Backstube berichtet, dass im Falle eines Dorferhalts es genügend junge Leute gäbe, die gerne hierher zögen, leere Häuser herrichten würden. Freunde hätten sich bereits bei ihm erkundigt.
Seit 2016 läuft die Umsiedlung in Keyenberg. 2023 soll sie nach Angaben von RWE abgeschlossen sein. Alles laufe bislang mit hoher Dynamik. „Viele Familien planen ihren Neubau, am Umsiedlungsstandort herrscht rege Bautätigkeit. Die gesamte technische Infrastruktur ist gebaut, die komplette Ortsrandeingrünung fertig“, stellt ein RWE-Sprecher fest. Es sei im Interesse der Dorfgemeinschaften und im Sinn der Sozialverträglichkeit, die Umsiedlungen planmäßig und verlässlich weiterzuführen, stellt RWE fest und geht davon aus, dass der Tagebau auf Grundlage der Leitentscheidung der rot-grünen Vorgängerregierung aus 2016 weitergeführt wird.
In Kuckum und im benachbarten Berverath sind die Zeichen des Widerstandes nicht zu übersehen. Ein gelbes X vor manchen Türen demonstriert trotzig: Wir bleiben hier. Und der Widerstand hat auch Gesichter: Marita Dresen, Mutter von drei Kindern, lebt mit der ganzen Familie von Geburt an im Ort. Die Eltern, 82 und 83 Jahre alt, sind dort geboren und wollen lieber sterben als umsiedeln. Die Dresens und viele andere Familien aus bedrohten Dörfern haben sich in dem Bündnis „Alle Dörfer bleiben“ zusammengefunden. Der Kampf um den Hambacher Forst hat sie wachgerüttelt. „Die vorläufige Rettung des Hambi hat gezeigt, dass eine geeinte, vielfältige Bewegung stärker sein kann als die Konzernmächte und dass wir breiten Rückhalt aus der Bevölkerung erfahren“, heißt es. Und Marita bedauert: „Für den Wald sind tausende aufgestanden, für uns Menschen hier und die schöne Natur, die denkmalwürdigen Gebäude oder das soziale Leben hat man sich kaum interessiert. Es geht doch nicht nur um Bäume. Es geht auch um Menschen. Das wollen wir zeigen – aber gewaltfrei.“
Ein Besuch bei den Dresens zeigt, hier funktioniert Nachbarschaft. Auf dem Grundstück von 15.000 Quadratmeter leben Pferde und Hühner, rechts und links teilt man sich friedlich die Natur. „Es ist eine Frechheit wenn RWE behauptet, die Umsiedlung sei in irgendeiner Weise sozialverträglich. RWE bietet uns im neuen Ort ein winziges Grundstück mit höchstens 2.000 Quadratmeter und verlangt, dass wir unsere Tiere abschaffen sollten – es sei schließlich nur ein Hobby.“
Dresens Haus hat den Krieg heil überstanden. „Und jetzt will RWE alles kaputtmachen? Wir brauchen Menschen, die mit uns kämpfen. Viele fahren durch das große Braunkohleloch, wissen aber nicht, was am Rande passiert, ja, zerstört wird“, so Marita Dresen.
In ihrem Dorf Berverath will auch Britta Kox mit ihrer Familie unbedingt bleiben. Sie zeigt Flagge. Am Fenster weht eine Fahne mit der Aufschrift „Stoppt Braunkohle“, das gelbe X ist unübersehbar, so wie am Ortseingang und an einigen Besitztümern. Berverath besteht aus 32 Häusern, nur vier würden leerstehen, berichtet die Kämpferin. Sie hat einen schönen, naturbelassenen Garten von über 2.000 Quadratmeter, versorgt die Nachbarn mit Gemüse. Im neuen Ort würde ihr kein Garten mehr zustehen.
„Hier ist das Leben noch lebenswert, vielerorts fehlt Wohnraum. Auch deshalb müssen wir dafür sorgen, dass unsere Dörfer bleiben“, so Britta Kox. Die Hoffnung wird konkret: Im benachbarten Holzweiler habe sich eine neue, vitale Gemeinschaft gebildet, nachdem das Dorf per Leitentscheidung der Landesregierung gerettet wurde. Und: Für den Fall, dass die Dörfer wirklich bleiben, hat die Stadt Erkelenz in einem Schreiben an den Ministerpräsidenten Laschet jedenfalls schon einmal Finanzbedarf angemeldet. \
Protest Aktion
Tausende Menschen protestierten Ende Juni weitgehend friedlich gegen den Braunkohleabbau in Garzweiler. Aber auch die Bürger der vom Abriss betroffenen Dörfer demonstrierten gewaltfrei für den Erhalt ihrer Heimat. \
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