Was ist wahr und was falsch? Was ist Zwang? Wo liegen unsere Freiheiten? Und inwiefern kann das Theater Missstände der Gesellschaft aufdecken und beheben? Dies ist nur ein Bruchteil der Fragen, die Wolfram Lotz in seinem 2011 erschienenen Schauspiel behandelt. Er hat sich beim Schreiben womöglich von Elementen des Epischen Theaters Bertolt Brechts inspirieren lassen, sodass sich Besucher gar nicht erst auf eine kontinuierliche Handlung einzustellen brauchen.
Auch die Distanz der Schauspieler zu ihrer Rolle, das minimalistische Bühnenbild, welches hauptsächlich aus einer großen Tafel, kombiniert mit wenigen Hilfsmitteln, besteht, der Einbezug des Publikums in die Handlung und unterschiedliche Verfremdungseffekte sind daher schon bekannt. So haben einige Auserwählte die Möglichkeit, eine Sondereintrittskarte zu erhalten und die Handlung aktiv zu unterstützen. Zudem springen die Akteure zwischen dem Publikum hin und her oder setzen sich dazu, was für Irritationen sorgt und ein Eintauchen in die Geschichte unmöglich macht – so wie es auch Brecht gewollt hätte.
Doch Lotz geht noch einen Schritt weiter: Er treibt die Intention, das -Publikum aus der Illusion des Theaters zu reißen, auf die Spitze. Es zeigt sich ein Versuch, Geschehnisse darzustellen, die mit unserer Wirklichkeit keineswegs zu vereinbaren sind. Diesem Vorgehen gibt er den Titel „Unmögliches Theater“, doch so unmöglich ist das Unterfangen gar nicht.
Tatsächlich beginnt „Der große Marsch“ auch mit einem solchen. Wobei es ein eher kleiner Ausflug ist; eine Führung durch Foyer und Mörgens-Café – Verzeihung, „Café Lotz“ – bis hin zu den Sitzplätzen.
Und hier „geht es weiter mit dem Weitermachen“. Moderiert von Katja Zinsmeister wird dem Publikum eine Reihe von Gästen vorgestellt, von der jeder spezielle Fragen aufwirft. So tritt der Autor auf, um mit der von ihm geschaffenen Figur über den von ihm geschaffenen Text zu debattieren. Der Chef der Deutschen Bank, Josef Ackermann persönlich, bedauert, dass er als Figur sehr häufig im Theater auftritt, doch als Mensch kaum Zeit dazu hat. Eine Gruppe Sozialhilfeempfänger hat mit Vorurteilen zu kämpfen und versucht sich gegen stechende Fragen der Schauspielerin zu wehren. Und selbst Prometheus erscheint, um über Telomere und die Möglichkeit mit deren Hilfe das Leben zu verlängern, zu referieren. Generell wird das Publikum immer wieder mit der Frage nach der Unsterblichkeit konfrontiert – was ohne Zweifel zum Nachdenken anregt.
Insgesamt haben Regisseur Thorsten Bihegue und Dramaturgin Caroline Schlockwerder nicht einfach ein Theaterstück, sondern ein wahres Happening angekündigt. Das ist – nicht zuletzt dank der beeindruckenden Leistungen von Thomas Hamm, Nele Swanton, Markus Weickert und Katja Zinsmeister – definitiv gelungen. Den Abend vergisst man nicht so schnell und am Ende lässt den Zuschauer eine Frage nicht mehr los: „Haben sich die Schauspieler wirklich darüber gefreut, dass ich da war, oder gab es nur die Regieanweisung‚ Darsteller schütteln dem Publikum die Hände und bedanken sich für das Erscheinen ?“ \ sim
19. + 24.6.
„Der große Marsch“
20 Uhr, Mörgens, Theater Aachen
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