Regisseurin Christina Rast weiß um die Fülle des Stoffs und hebt eine konzentrierte Version auf die große Bühne. Mit „Peer Gynt“, „FaustIn and Out“ sowie „Meister und Margarita“ zeigte der Weg in vergangenen Spielzeiten bereits in Richtung des Faustschen Urstoffs.
Nun gehört die Bühne dem Original – und zwar gleich in vierfacher Ausführung, denn mit Katja Zinsmeister, Karsten Meyer, Tim Knapper und Benedikt Voellmy verkörpert ein ganzes Quartett den mit sich und der Welt hadernden Dr. Faust.
„Die Faszination dieses themenumspannenden Werks hat nach der Jahrtausendwende nochmals neue Impulse erhalten“, so Dramaturgin Inge Zeppenfeld, „blickt man auf die gesellschaftliche Entwicklung, hat Goethe beinahe einen Science-Fiction-Text verfasst. Ungedeckter Zahlungsverkehr, Schaffung eines künstlichen Menschen, Kolonialisierung und Landgewinnung – ein Blick in eine Welt, mit deren Auswüchsen wir gerade heute konkret zu kämpfen haben. Selbst die Beschleunigung der digitalen Kommunikation hat Goethe angesprochen.“
Das heutige Lebensgefühl
Wer mag, kann im ersten Teil einen recht einfachen Plot ausmachen; ein Kammerspiel beinahe. „Im Grunde genommen ist es die Liebesgeschichte eines Intellektuellen mit einer Kleinbürgerin“, stellte Brecht einst fest. Christina Rast sieht hier jedoch durchaus Parallelen zur heutigen Zeit: „Die Texte, die Faust spricht, haben doch mit einem heutigen Lebensgefühl zu tun. Berufliche »Projekte«, Workshops, Yoga, Selbstverwirklichung – immer höher, schneller, weiter als Maxime und Motor der spätkapitalistischen Gesellschaftsform und des Fortschrittdenkens. Und am Ende stellt sich doch keine Befriedigung ein.“ Da kann man sich im Netz so viel Wissen wie nur möglich zusammenklicken – am Ende bleibt man eben so klug als wie zuvor.
Und so benötigt es auf der großen Bühne auch keine individuelle Geschichte eines von Midlife-Crisis gebeutelten Mannes, der sich nach seiner Jugend zurücksehnt. Spätestens im zweiten Teil greift Goethe dann auch so richtig vor: „Der Abriss einer 3000-jährigen Menschheitsgeschichte“, stellt die Regisseurin lapidar fest. „Ein größenwahnsinniges Unterfangen.“
Ein ziemlicher Kotzbrocken
Die Beschäftigung mit dem Stoff könnte sich also über Jahre erstrecken – wie kommt es nun aber daher, das Aachener Faust-Konzentrat? Im ersten Teil stellt Rast den Menschen ins Zentrum – mit all seinem Streben, seinem Verzweifeln und dem Zugrundegehen. Danach sind die Gesellschaftssysteme dran. Hinzu kommt die Besetzung der Titelfigur durch gleich vier Schauspieler; Ensemble-Mitglied Karsten Meyer blickt auf die Rollenaufteilung: „Da wir vier verschiedene Schauspieler sind, sind wir per se auch vier verschiedene Fäuste. Schaut man sich die Figur zudem genauer an, stellt man fest, dass der Faust ein ziemlicher Kotzbrocken ist. Wird dieser von einem einzigen Schauspieler gezeigt, findet eine Individualisierung statt – ein Quartett kann der Thematik jedoch eine gewisse Verallgemeinbarkeit verleihen.“
Und doch gibt es in „Faust 1 + 2 #konzentriert“ diese eine Sehnsucht, auf die sich alle vier Charaktere einigen können: Der eine Augenblick, der doch verweilen möge; der eine Moment, in dem man das ewige Hinterherrennen vergessen darf. Hier liegt die Vision des Stücks und lauert das Lebensgefühl unserer Zeit. Eine gefährliche Mischung aus „immer viel wollen“ und dem „totalen Zusammensturz zwischen Größenwahn und Depression.“
Faust sucht seine Erlösung erst im Privaten; später folgen auf selbstständigem Wege noch viel größere Begehrlichkeiten. Was diese schnelllebige Welt im Innersten also zusammenhält, zeigt das Theater Aachen im Zuge seiner Spielzeit-Eröffnung. \ Robert Targan
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