Die Oper „Stiffelio“ über die Frau eines protestantischen Pfarrers, die Ehebruch begangen hat, wurde zu Verdis Lebzeiten kaum und wenn überhaupt nur stark zensiert gezeigt und ist daher den meisten nicht weiter bekannt. Ewa Teilmans hat diese Oper aufgetan, das Libretto neu übersetzt und die Figuren kompromisslos in eine neue Zeit gesetzt.
Nächstenliebe: okay. Sie nicht zu hinterfragen: keine Option. So wandeln die Figuren in einem Bühnenbild von Andreas Becker vor hohen düsteren, mit Rissen durchzogenen Wände, die sich in vier Richtungen auffahren lassen, davor links und rechts zwei Glasgänge. Der kirchliche Aspekt wird hier definitiv ausgereizt, allerdings clever und spektakulär – beispielsweise wenn durch das Kreuz, das die Rückwand freigibt, blutrotes Licht scheint oder Figuren aus der Vergangenheit erscheinen. Alles sehr klar, sehr unaufgeregt. Aufregend und völlig zu Unrecht selten bis nie gehört ist Verdis Musik. Chanmin Chung dirigiert das Orchester durch die Partituren, Sänger und Chor begeistern das Publikum. Lina, die Betrügerin, ist besetzt mit der russischen Sopranistin Larisa Akbari. Mit ihrem roten Haar ist sie auch als junge Frau und kleines Mädchen erkennbar. Sie, die zwischen drei Männern – ihrem Ehemann, dem Geliebten und dem Vater – steht, wird nicht einfach als Schuldige abgestempelt. Ihr Mann Stiffelio, der eigentlich Rudolfo Müller heißt, besetzt mit dem südkoreanischen Tenor Soon-Wook Ka, ist nach außen hin ganz der gläubige Pfarrer, der die Nächstenliebe und die Bibel so hoch hält, dass er seiner Frau den Betrug verzeiht und auch noch einer Scheidung zustimmt.
Teilmans allerdings lässt die Güte des Mannes ein wenig offen, zum Beispiel wenn er den Geliebten seiner Frau etwas zu lange anstarrt. Der Vater wiederum (der britische Bariton Benjamin Bevan) versucht erfolglos mit seinen Mitteln seine Ziele zu erreichen. Es ist eine Oper ohne Kitsch und Herzschmerz, ohne einen großen Triumphmarsch. Vielleicht ist sie auch genau deshalb so unaufgeregt. Große Arien und Chorgesänge gibt es natürlich dennoch und die sind absolut lohnenswert. Insgesamt eine beeindruckende Ensembleleistung, die vom Publikum mit lautem Applaus belohnt wird. Schade, dass sich Ewa Teilmans den Applaus aufgrund einer fiesen Grippe nicht selber abholen konnte. // Kira Wirtz 19.+29.1. 2023 (18 Uhr) „Stiffelio“ 19.30 Uhr, Bühne, Theater Aachen
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