In einem kargen Atelierraum stehen etliche Skulpturen, die mit weißen Tüchern verhangen sind … plötzlich bewegt sich eines der Tücher, eine junge Frau kriecht hervor und beginnt mit lauter Stimme ein Gespräch mit ihrem unsichtbaren Bruder Paul. Diese überraschende Anfangssequenz katapultiert das Publikum direkt in Sara Hegers Portrait von Camille Claudel – einer begabten, sensiblen, modernen Frau in einer von Männern dominierten Kunstwelt. Die 1864 in der Champagne geborene Camille äußerte früh den Wunsch, Bildhauerin zu werden. Sie zog 1883 nach Paris und wurde Schülerin des berühmten Bildhauers Auguste Rodin, mit dem sie eine wechselvolle Beziehung verband. Im Jahr 1893 beendete Claudel das Verhältnis, was sie finanziell und emotional in eine tiefe Krise stürzte. Seit 1899 wohnte und arbeitete sie in einer düsteren Zweizimmerwohnung. Als Claudel im Gegensatz zu Rodin keine staatlichen Aufträge erhielt und trotz lobender Kunstkritiken keine Käufer für ihre Werke fand, beschuldigte sie ihn des Plagiats und steigerte sich vermeintlich in Verfolgungswahn hinein. In der glamourösen Pariser Kunstwelt wurde die begabte Bildhauerin stets als Schülerin und Geliebte von Rodin und als Schwester des Schriftstellers Paul Claudel gesehen, nicht aber als eigenständige Person. Paula Luy verkörpert die gleichermaßen verletzlich-zarte wie entschlossen-energetische Camille mit beeindruckender Verve. Ihre von Galina Ryzhikova am Piano begleiteten Monologe wechseln – wie die Musikstücke – von leisen, fast gehauchten Tönen bis zum explodierenden, schallenden Geschrei. Die 25-jährige Schauspielerin weist dabei nicht nur eine gewisse optische Ähnlichkeit mit der jungen Camille Claudel auf, sie stellt das Ringen Camilles um ihre künstlerische und persönliche Freiheit auf ergreifende Weise dar: den emotionalen Wechsel von Verliebtheit, künstlerischem Schaffensdrang und Euphorie hin zu Enttäuschung, Verzweiflung und einem Wutausbruch, der das Publikum in seiner Intensität erschrecken lässt. Sie tanzt beschwingt, als es um ihre Affäre mit dem Komponisten Claude Debussy geht, und schildert abgeklärt die Reaktionen auf ihre Ankunft im Atelier, als es von den anwesenden Männern heißt: „Ah, ein neues Modell, dann zieh’ dich schon mal aus.“ Nach dem Tod des Vaters 1913 wird Camille Claudel gegen ihren Willen von ihrem Bruder in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen. Dort verbringt sie bis zu ihrem Tod 1943 rund 30 Jahre, ohne je wieder zu zeichnen oder zu modellieren – fast zwei Drittel ihres Lebens! Bis heute lesen sich die biografischen Texte zu Camille Claudel in genau diesem Duktus, als Geliebte des großen Künstlers, die schließlich verrückt wird. Eigentlich ist es aber die Geschichte eines doppelten Vergessens – ihrer Person in einer Irrenanstalt und ihres Werkes in der an Frauen wenig interessierten Kunstgeschichtsschreibung. Das Publikum würdigt die Leistung des Ensembles, allen voran Paula Luy, mit wohlverdientem Applaus, auch wenn das Wissen um die unzähligen Frauen, denen auch heute die Freiheit verwehrt wird, bitter nachhallt. bep
„Ich, Camille Claudel“
Diverse Uhrzeiten, Theater K im Tuchwerk, Atelier Pasch
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