Von Dirk Tölke
Hier hält man sich gerne auf. So wird die in Aachen nicht durch Fürsten, sondern durch Bürger zu Stande gekommene Skulpturensammlung des Museums zeitgemäß als visuelle Geschichte sichtbar. Nicht mehr die inzwischen wissenschaftlich abgearbeitete Chronologie und nach Schulen sortierte Aufstellung, sondern eine nach Motiven und Anwendungszwecken nachvollziehbare Inszenierung gruppiert die Werke.
Das Aachener Suermondt-Ludwig-Museum gehört zu den bedeutendsten kommunalen Sammlungen der Bundesrepublik. Die Skulpturensammlung hat einen entsprechend umfangreichen und qualitätsvollen Charakter. Das haben die damit seit Jahrzehnten vertrauten Kuratoren Dagmar Preising und Michael Rief mit dem Museumsteam unter Leitung des neuen Direktors Till-Holger Borchert in farblich abgestimmten Räumen des Erdgeschosses genutzt und sie nach verschiedenen Gesichtspunkten in einer Folge von Kammern eingerichtet. Da gibt es viel zu entdecken und zu stöbern, zu vergleichen und neu zu erfahren, denn Forschungsarbeit zu Material und Technik und internationalen Untersuchungen fließt durchaus in die Beschriftungen ein. Nicht so sehr die christliche Figurenwelt und Heiligenattribute oder Faltenwürfe stehen mehr im Zentrum, sondern die Gesten, Gebärden und Mimiken und der Lebenswandel der Menschen von 1100 bis 1500 erhalten mehr Aufmerksamkeit. Leben, Handel und Seelenheil heißen die übergreifenden Blöcke im Ausstellungstitel.
Noch immer muss das Mittelalterbild korrigiert werden, auch wenn Umberto Ecos Roman „Der Name der Rose“ und manche Ausstellung seitdem einen Änderungsprozess in Gang gebracht hat. Das angeblich finstere Mittelalter ist eine Konstruktion und die Versatzstücke, die in Onlinerollenspielen, Wikingersagas und Mittelaltermärkten Popularität erfahren, sind nicht wirklich näher an der Vergangenheit. Die Lebenswirklichkeit der Menschen allerdings dringt immer mehr in die symbolische Typenwelt der christlich geprägten Skulpturen des Mittelalters ein, wie man an den vielfältig arrangierten und neugierig machenden, humorvollen und geistreichen Konstellationen nachvollziehen kann. Es beginnt mit Engeln und Musik und macht zivilisatorisch mit christlichem Welt-Bild vertraut. Es folgt das Marienbild und seiner formalen Vorgeschichte in Ägypten. Viel Liebliches, Mütterliches und ein Frauenbild vermittelndes Vor-Bild-Haftes wird vergleichbar. Die unser Denken mitprägende Bildgeschichte entspannt sich darauf ebenso am Bild des Christuskindes, mal Kleinkind, mal kleiner Erwachsener, mal Nackedei, mal den Opfertod voraussagender Weltenrichter. Unterschiede von Romanik und Gotik werden sinnfällig. Man erfährt etwas von den Wegen des Holzes aus dem Baltikum in brabantische Werkstätten für Altarretabel, die als Serienprodukte und Exportschlager in die fast ganze Welt verschifft wurden, am Vorabend der Wiederentdeckung Amerikas, das bereits um 1000 Erik der Rote nachfolgelos erkundete und nicht erst der unausrottbar gefeierte Kolumbus.
Ein im Verteilungsschema einer Kirche orientierter Raum zeigt die Nutzung verschiedener plastischer Werke für liturgische und theologisch-propagandistische Zwecke. Noch spannender sind die Beispiele, die ein Kabinett erfasst, das in Prozessionen, Weihespielen oder religiösen Handlungen genutzte bewegliche und ausstaffierte Skulpturen versammelt. Der Reliquienkult findet Erklärung durch zahllose figurative und gefässliche Fassungen und Inszenierungen.
Den Zugang zum Mittelalter vermitteln aktualisierte Stilzimmer, die Bilder, Möbel und Skulpturen einer Epoche im Kontext zusammenfügen. Die zahlreich auch durch Leihgaben ergänzte Schau lässt am Beispiel Ulm auch die Vielzahl dort bekannter, sonst eher selten bekannter Meisternamen sichtbar werden.
Man muss nicht christlich sein, um an dieser kulturhistorischen Darstellung des Wandels von Kunst und Bildwelt Freude, Erkenntnisgewinn und ungläubiges Staunen zu erleben.
Mittelalter
Mit einem rhetorischen Trick hat Giorgio Vasari um 1555 die eigene Zeit als Renaissance, als Wiedergeburt stilisiert, indem er statt der tatsächlichen Kontinuität und Rezeption einen Bruch mit der Antike behauptete, deren Kenntnisse es wiederzuerlangen gelte. Daher wurde die zeitliche Lücke zum Mittelalter, das auch noch als barbarisch (gotisch), dunkel und ungebildet dargestellt wurde. Das 19. Jahrhundert hat diese Sichtweise verstärkt. So wurde diese falsche Wertung bis zu Umberto Ecos „Name der Rose“ tradiert. Das zwischen 1100 und 1500 viele Aufbrüche und Erneuerungen stattfanden, zeigt die Neupräsentation der Mittelaltersammlung des Suermondt-Ludwig-Museums auch. \
bis auf Weiteres
Wiedereröffnung der Mittelalterabteilung
„1100-1500 Leben, Handel, Seelenheil“
Suermondt-Ludwig-Museum
Webseite Suermondt-Ludwig-Museum
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