Von Richard Mariaux
Es sind Ferien und Astrid steht, da als einzige der fünf Lesefrauen nicht im Urlaub, gerne Rede und Antwort. Ihr Lesekreis besteht seit mittlerweile 20 Jahren. Alle Frauen sind – der Zufall will es so – derzeit 60 Jahre alt. Astrid arbeitet bei einer Bundesbehörde. Marie ist Cutterin beim Fernsehen, Susanne Sporttherapeutin, Claudia Lehrerin und Marion Buchhändlerin. „Unsere Idee hinter dem Lesekreis war einfach, sich über Literatur auszutauschen. Wir sind alle sehr literaturaffin und haben Spaß daran, uns nicht nur Bücher gegenseitig zu empfehlen, sondern die dann halt auch gemeinsam zu lesen“, erzählt Astrid. „Wir gehen schon mal gemeinsam ins Theater oder auf eine Lesung und sind auch so privat miteinander verbunden. Wir kannten uns alle vorher schon, aber nicht in diesem Kontext.“ „Lesekreise“ werden von vielen Mitmenschen etwas misstrauisch beäugt. Dabei sind sie mitnichten die abgehobenen Nachfolger der klassischen Literatursalons, die ihre Blüte zunächst in der Salonkultur englischer und französischer Adelshäuser hatten und dann seit der Aufklärung im 18. Jahrhundert im reichen Bürgertum häufig von wohlhabenden gebildeten Frauen zelebriert wurden. Heute sind Lesekreise kein feudales oder großbürgerliches Relikt mehr. Vielmehr wird hier der Lust am Lesen in geselliger Form gefrönt und das Buch dialogisch reflektiert. Hier kommen fremde oder befreundete Leserinnen und Leser zusammen und bewegen sich jenseits des in universitären Seminaren vorherrschenden literarischen Kanons. Niemand muss dort intellektuelle Textanalyse betreiben. Die Welt der Bücher steht jeder Rezeption offen – auch der der reinen Unterhaltung. Astrids Lesekreis trifft sich immer reihum, ungefähr fünfmal im Jahr. Eine richtet dann jeweils den Abend aus: „Es gibt vielleicht einen leckeren Salat, jede hat da so ihre individuellen Ideen. Zuallererst tauschen wir uns ein bisschen aus, freuen uns, trinken auch erst einmal ein Gläschen Sekt“, beschreibt Astrid den Beginn eines typischen Leseabends. Während der Coronapandemie hat ihr Lesekreis pausiert. Eine Fortsetzung im digitalen Format wollten sie nicht, zumal viele von ihnen schon den ganzen Tag mit Bildschirmarbeit verbringen. „Wenn man sich schon so lange kennt, weiß man auch, dass man sich nicht abhanden kommt.“ Die Buchwahl Die Wahl zum Buch der Stunde kann ganz unterschiedlich angegangen werden. Bei einem Treffen kann jeder ein anderes Buch vorstellen. Den anderen im Kreis kann dies dann Leseempfehlung sein oder auch nicht. Andere wiederum einigen sich auf ein Buch, das von allen gelesen und dann beim nächsten Mal besprochen wird. Dann verbleibt eine „Lesezeit“ von vier bis acht Wochen, bis man sich wieder trifft. Es gibt auch Lesekreise, die nur Bücher einer bestimmten literarischen Gattung lesen wie Krimis oder Fantasyromane. Kurios britisch ist der Lesekreis, der seit 25 Jahren James Joyces „Finnegans Wake“ diskutiert. Auch die Aachenerinnen haben ihre Regeln: „Entweder hat eine von uns das Buch bereits gelesen bzw. wir haben alle was gelesen und haben dann drei, vier Bücher zur Auswahl. Das muss nicht zwingend eine Neuerscheinung sein. Oder man ist in einem Literaturmagazin oder Feuilleton darauf aufmerksam gemacht worden. Wir stellen das dann kurz gegenseitig vor und stimmen ab“, erklärt Astrid das Procedere. Für die Auswahl des Buches kann auch sein Umfang entscheidend sein: In den Ferien darf das Buch auch schon mal was dicker sein. Und nicht immer sind alle nachher mit der ausgewählten Lektüre zufrieden: „Es gibt Bücher, die uns positiv gefangen genommen haben, inhaltlich, sprachlich, thematisch, von denen wir alle absolut geflasht waren. Aber ja, es gab auch schon Bücher, da haben wir gesagt: Ehrlich, über dieses Buch müssen wir jetzt nicht wirklich reden.“ Lesekreise stellen auch für Buchverlage und Buchhandlungen ein großes Potenzial dar, denn sie bergen ständig an neuen Titeln interessierte Käuferschichten. Gerade Filialisten wie Thalia oder Hugendubel haben diese in der Regel sich privat austauschenden Gruppen längst entdeckt und versuchen sie in ihre Kunden-Community einzubinden. Denn die digitale Welt mischt längst kräftig mit. Und damit ist noch nicht einmal das eBook gemeint, das bei Deutschlands Lesern immer noch einen etwas schweren Stand hat. Auf Plattformen wie mein-literaturkreis.de vernetzt die Betreiberin interessierte Leserinnen und Leser, bietet Webinare an und hat sogar einen Lesekreis-Ratgeber beim Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch veröffentlicht. Im angeschlossenen Facebook-Leseclub kann hier zum Beispiel über einen Bestseller wie „Stay away from Gretchen“ von Susanne Abel online diskutiert werden. Selbstredend bietet die Website diverse Werbemöglichkeiten – was dann die Verlage hellhörig macht. Ein Big Player ist auch das von der Holzbrinck-Gruppe (Die Zeit, Rowohlt, S. Fischer, Kiepenheuer & Witsch, Droemer Knaur) ins Leben gerufene Lesenetzwerk lovelybooks.de. Die mit 1,9 Millionen nach eigenen Angaben größte Buch-Community Deutschlands wurde mittlerweile von Hugendubel übernommen. Alleine im Januar 2021 verzeichnete man laut Unternehmen gegenüber dem Vorjahr ein Traffic-Wachstum von über 30 Prozent. Corona war hier ganz offensichtlich ein effektiver Beschleuniger. Denn im sozialen Lockdown wurde die Möglichkeit genutzt, sich digital über Bücher auszutauschen.
„In vielen Lesekreisen saß man dann mit einem Glas Rotwein vor dem Bildschirm und prostete sich zu.“
Allerdings bleibt das Hauptmanko der digitalen Lesekreise das Fehlen der persönlichen Begegnung. In einem Face-to-Face-Lesekreis haben sich entweder bereits befreundete Menschen zusammengefunden oder man tritt dem Kreis bei, um hier neue Leute kennenzulernen. Für viele gehört auch ein kulinarisches Rahmenprogramm zum literarischen Debattierclub dazu. In jedem Fall holt der Austausch im Lesekreis das Lesen aus dem einsamen Kämmerlein. Der Mehrgewinn sind neben dem sozialen Event die Leseeindrücke der anderen, ihre anderen, manchmal verblüffenden Perspektiven. Schon wird der eigene begrenzte Rezeptionshorizont erweitert und bereichert. Kontrovers diskutieren Ein Lesekreis ist eine Gruppe von Individuen mit oft unterschiedlichen Meinungen und literarischen Vorlieben. Kontrovers kann es daher immer zugehen. Was der einen vom Erzählstil her gefällt, wie Themen aufgegriffen und diese literarisch umgesetzt werden, muss die andere nicht ebenfalls mögen. Genauso ergibt sich aus dem Inhalt eines Buches öfter schon mal eine politische Diskussion. In Astrids Lesekreis geht es auch gerne um Frauenbilder. Astrid: „Wir sind zwar kein feministischer Lesezirkel, aber uns interessieren natürlich viele Dinge, die auch gesellschaftspolitisch relevant sind. So hatten wir uns ganz spontan nach der Karlspreis-Verleihung entschieden, das Buch von Alice Bota („Die Frauen von Belarus“) zu lesen, weil wir einfach nochmal mehr zu diesem Thema erfahren wollten.“ Spontan hat Astrid einen kleinen Stapel Bücher auf dem Küchentisch ausgebreitet. Bücher, die im Laufe der vielen Jahre gemeinsam gelesen wurden. Anlässlich der Aufführung am Theater Aachen vor fünf Jahren wählten sie den Großstadtklassiker von Erich Kästner: „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“ aus. Juli Zehs „Unterleuten“ ist darunter, Bücher von Elif Shafak, Laurence Osborne oder die amüsanten Jugenderinnerungen des Schauspielers Joachim Meyerhoff. Experimentell, aber absolut lesenswert fanden sie auch Anne Webers „Annette – Ein Heldinnenepos“ über eine französische Résistance-Kämpferin – 2020 die Gewinnerin des Deutschen Buchpreises. „Ein Zeremoniell unseres Lesekreises ist auch, dass wir uns regelmäßig vor Weihnachten treffen und richtig lecker essen gehen. Das ging in den Corona-Jahren natürlich nicht. Und zum Ritual gehört auch, dass wir von uns immer ein gemeinsames Foto machen. So sehen wir, dass wir über die Zeit … immer schöner werden!“ (lacht) Online-Kreise Mein Literaturkreis.de
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Bietet auch dem Genre zugeneigte Communities: House of Fantasy, Crime Club (Thriller & Krimis), Literatursalon (anspruchsvolle Literatur), Lovely Lounge (Liebes- und Erotik-Romane) oder #youngadultreads (Jugendliteratur). Nach einer Anmeldung hat man Zugriff auf eine Datenbank sowie die Möglichkeit, eine eigene virtuelle Bibliothek zu erstellen und mit anderen Usern zum Austausch in Kontakt zu treten.
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