Von Richard Mariaux
Ist „Maniac“ DAS Buch der Stunde? Viel Aufmerksamkeit wird dem chilenischen Autor Benjamin Labatut jedenfalls zuteil. Ähnlich wie in dem Vorgängerroman „Das blinde Licht“, der auf der Leseliste von Barack Obama stand, befasst sich Labatut in „Maniac“ erneut mit der Arbeit einiger Wissenschaftler. Diese agieren auf dem schmalen Grat zwischen Genie und menschlicher Hybris, blind vorangetrieben von einer Kriegsindustrie im Namen des technischen Fortschritts.
„Maniac“ (Wahnsinniger) ist auch der Name des ersten Hochleistungscomputer, den der Mathematiker John von Neumann nach dem 2. Weltkrieg in Princeton entwickelte. Zuvor gehörte der - ohne jeden moralischen Kompass handelnde - Exil-Ungar zum Team von John Oppenheimer beim Atombombentest im „Manhattan Project“ in der Wüste New Mexicos.
Benjamin Labatut gliedert den Roman in drei ungleich lange Teile. Zu Anfang schildet er das Leben des Österreichers Paul Ehrenfest, der - gleichermaßen aus Angst vor den an Bedeutung gewinnenden Nazis wie über seine Forschungen zur Quantenphysik - wahnsinnig wird und sich das Leben nimmt. Von Neumann gehörte zum Kreis internationaler Wissenschaftler, die mit den Forschungsergebnissen Ehrenfests und anderer ihre brillante Karriere in den USA fortsetzten.
Diesem empathielosen von Neumann ist der mittlere und längste Teil des Romans gewidmet. Labatut kreist mit einzelnen Kapiteln um die vielen Randfiguren, die sich um von Neumann privat und arbeitstechnisch herumbewegten: Seine Frau, seine einzige Tochter – die ab den 60er Jahren eine glänzende Karriere startete und als erste Frau höchste Positionen in Wirtschaftsvorständen und regierungsnahen Institutionen innehatte - sowie Kollegen, Vertraute wie Konkurrenten, die dem manischen Hirn Von Neumanns in den allermeisten Fällen intellektuell nie hinterherkamen.
Der letzte Abschnitt des Buchs springt in die Jetztzeit und beschreibt die Allmacht KI, die von Neumann in weiten Teilen vorausgesagt bzw. in den Grundzügen mit entwickelt hat. Der selbstlernende Supercomputer AlphaGo spielte 2016 fünf Partien gegen den Weltchampion im komplexesten Brettspiel überhaupt, dem asiatischen Spiel „Go“. Dass AlphaGo überhaupt eine einzige Partie verliert, ist den von seinen Entwicklern selbst nicht mehr nachvollziehbaren Spielzügen geschuldet – AlphaGo wird zum selbst denkenden „Maniac“. Eine unheimliche Vorstellung.
Benjamin Labatut: „Maniac“
Suhrkamp, 2023
398 Seiten, 26 Euro
WEITEREMPFEHLEN