Die Beats dröhnen aus den Lautsprechern. Die Kamera stellt sich langsam scharf, arbeitet sich durch den Trockeneisnebel des Clubs, findet Victoria (Laia Costa) und lässt die junge Spanierin, die erst seit drei Monaten in Berlin ist, nicht mehr aus den Augen. Mehr als zwei Stunden lang wird sie Victoria durch eine wilde Nacht im Bezirk Mitte folgen. Genau gesagt: 136 Filmminuten in einem Zug, in Echtzeit gedreht und ohne Schnitt auf die Leinwand gebracht. Ein vollkommen irres cineastisches und logistisches Unterfangen ist Sebastian Schippers „Victoria“ und aus dieser Gesagt-Getan-Idee ist einer der besten Filme entstanden, die das deutsche Kino in den letzten Jahren hervorgebracht hat. Mit seinem One-Shot-Movie und den improvisierten Dialogen zeigt Schipper („Absolute Giganten“) dem durchdiskutierten Perfektionskino die lange Nase. Drei mal drei Nächte hat sich das Filmteam um die Ohren geschlagen und beim dritten Versuch war die Sache genauso im Kasten, wie wir sie auf der Leinwand sehen.
Als Victoria den Club verlässt, trifft sie auf vier angetrunkene junge Männer. Sonne (Frederick Lau), Boxer (Franz Rogowski), Blinker (Burak Yigit) und Fuß (Max Mauff) nennen sie sich. Zögernd, aber auch amüsiert lässt sich Victoria auf Sonnes prollige Flirtversuche ein, folgt den Jungs durch die Nacht auf das Dach eines Mietshauses, nimmt Sonne mit ins Café, wo in wenigen Stunden ihre Frühschicht beginnt, und gerade als die beiden sich näher kommen, steht der sichtlich nervöse Boxer vor dem Laden. Innerhalb kürzester Zeit werden die Fünf von Gangsterboss Andi (André Hennicke) in einen waghalsigen -Banküberfall hineingezwungen und nach einer Stunde Laufzeit beginnt ein ganz anderer Film – und wir befinden uns immer noch in derselben Einstellung.
Der Rausch des Unvorhersehbaren entsteht in „Victoria“ nicht durch besonders gewiefte Plotkonstruktionen, sondern aus den Figuren heraus. Der kriminelle Weg, auf den sie sich begeben, ist für sie die totale Überforderung, aber auch ein Moment im Leben, in dem plötzlich alles möglich zu sein scheint. Von diesem Gefühl wird Schippers Film getragen. Er erzählt keine Geschichte, er erzählt Gefühle, zu denen Freundschaft, ein wenig Liebe, Angst, Euphorie und -Panik gehören. Diese emotionale Berg-und-Tal-Fahrt absolviert das frei spielende Ensemble mit Bravour. Ruhm und Ehre gilt aber vor allem dem norwegischen Kameramann Sturla Brandth Grøvlen, der aus dem ungeschnittenen Bilderfluss eine ganz eigene Poesie entwickelt. \ Martin Schwickert
NACHGEFRAGT
Interview mit Sebastian Schipper
136 Filmminuten in einer Einstellung – wie ist das, wenn Sie als Regisseur kaum noch eingreifen können?
Das gleicht dem Erlebnis eines Fußballtrainers. Der kann – im Gegensatz zum Regisseur – vielleicht noch ein paar Spieler auswechseln und am Rand rumbrüllen. Aber eigentlich fährt nach dem Anpfiff der Zug ab. Da muss man einfach loslassen.
Regisseure gelten ja oft als kontrollsüchtig. War dieser Film für Sie auch eine Art Therapie?
Auf jeden Fall. Der Organismus Film ist sehr anfällig für den Virus des Verschlimmbesserns. Das Micro-Management macht oft viel kaputt, weil das mit dem Kopf gemacht wird, obwohl man ja Emotionen zeigen will. Aber wenn man ins kalte Wasser springt, weckt das auch die Intuition und die Reflexe – und die bringen oft bessere Ergebnisse hervor, als durchdachte Entscheidungen. Der Verlust der Kontrolle ist für einen Regisseur brutal. Aber man bekommt dafür von den Schauspielern unglaubliche Geschenke: Da zaubert die Mannschaft im Finale ein Spiel auf den Rasen, von dem ein Trainer nur träumen kann.
Was kann für Sie nach einem solchen Werk noch kommen?
Ich werde zwar nie wieder einen One-Take drehen. Aber nach so einer Erfahrung will man natürlich künstlerisch noch mehr riskieren. Hoffentlich bleibt das so, ohne dass es nur zur Pose wird. \ Martin Schwickert
Bewertung der redaktion
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