Das Licht flackert, es donnert und poltert. Ein undefinierbares Geräusch ist zu vernehmen. Da kommt sie, die Familie Dupont: Vater León (Anton Schiefer), Mutter Anna (Mona Creutzer) und ihre 17-Jährige Tochter Zénobie (Laura Thomas). Und natürlich ihre Haushälterin (Annette Schmidt).
Gleich zu Beginn schnappen sie sich alles was nicht niet- und nagelfest ist und flüchten sich mit letzter Kraft ein Stockwerk in die Höhe, hinein in ein Wohnzimmer. Geschafft! Hier wollen sie bleiben, hier gründen sie ihr neues Reich. Auf verstaubten alten Teppichen, zwischen ausgestopften Tieren und klapprigen Möbeln lässt es sich doch gut leben. Schnell scheinen Flucht und Verluste wieder vergessen.
Doch der Zuschauer sieht den Grund der Flucht. Denn da liegt er, eine Etage unter ihnen: das Schmürz (Jochen Deuticke), ein von Kopf bis Fuß bandagiertes menschenähnliches Wesen. Es liegt reglos am Boden, ganz benommen von Schmerz und Folter – es spricht nicht, es wehrt sich nicht, aber es macht auch keinen Anstalten zu gehen.
Besser Leugnen
Die angebliche Heiterkeit der Eltern, die die Situation überspielen wollen, wird von Tochter Zénobie schnell durchschaut: „Wieso ziehen wir jedes Mal um, wenn wir wieder dieses Geräusch vernehmen?“
Anstatt der erwünschten Antwort, leugnen die Erwachsenen weiterhin was geschehen ist, können sich nicht erinnern, an eine Zeit vor dem Leben im Wohnzimmer, in der noch jeder sein eigenes Zimmer gehabt haben soll. „Ein eigenes Zimmer, aber Zénobie, das hast Du nie gehabt!“ spielen die Eltern ihr Spiel weiter und diagnostizieren „Symptome kommender Verwirrung“ bei ihrem Kind.
Finden sie auf die bohrenden Fragen keine Ausreden mehr, muss das Schmürz wieder herhalten.
Zénobie will nicht locker lassen, seien es doch „die Jungen, die sich erinnern und die Alten, die alles vergessen“, doch da ist es plötzlich wieder – das Geräusch! Zum wiederholten Male flüchtet die Kleinfamilie ein Stockwerk höher und verliert abermals dabei an Komfort und zunehmend kommen auch Mitmenschen auf mysteriöse Weise abhanden, wie beispielsweise der Nachbar (Martin Päthel), der sich kurzzeitig zu ihnen gesellt hat.
Damals wie heute
Boris Vians Stück „Die Reichsgründer oder das Schmürz“, das er Ende der 50er-Jahre, als die französische Gesellschaft ihre guten Vorsätze nach dem Zweiten Weltkrieg schon wieder vergessen hatte, schrieb, karikiert das Vergessen und Verdrängen so weitläufig, dass die Botschaft des Stücks auch jetzt noch brandaktuell ist, denke man beispielsweise an kenternde Flüchtlingsboote, Hungersnöte, Verlierer der Gesellschaft oder Opfer häuslicher Gewalt.
Was das Geräusch aber nun wirklich ist, wohin die Personen verschwunden sind und was mit León passiert, beantwortet weder Vian, noch die Inszenierung Agma Formanns eindeutig.
Der Raum für Interpratationsmöglichkeiten ist dabei am Ende so groß, dass man sich fast schon etwas alleingelassen fühlt, wie Zénobie mit all ihren unbeantworteten Fragen. Als wäre man selbst der einzige Überlebende in dieser bedrückenden Atmosphäre. Nun ja, nicht ganz alleine, da wäre ja immer noch das Schmürz. \ ab
WEITEREMPFEHLEN