Stühle hängen an der Wand, ein Schaukelstuhl wippt in einer Ecke. Alles ist schwarz um Kaspar I herum. Düster, schwarz, verstörend. Weiß ist allein Kaspar I – gespielt von Tim Knapper. Auf Schläppchen stakst er über die Bühne. Es ist, als könne er den Körper nicht kontrollieren, wie er auch die Sprache noch nicht beherrscht, oder besser die Fähigkeit, seine Gedanken sortiert in Sprachform zu äußern. Unsicher bewegt er sich als hätte er keine Gelenke. Lustig sieht es aus, würde er nicht nach längerem Taumel auf den Boden knallen. Fast kommt so etwas wie Stolz auf, als Kaspar I es schafft, ein Wort mit seinen Lippen zu formen, bevor die anderen ihn niederreden. Kaspar, das unschuldige Kind, dass erst noch lernen muss wie die Sprache, Bewegung und damit einhergehend Gesellschaftsfähigkeit funktioniert. Hier mit Gewalt. Mit sprachlicher Gewalt.
Christian von Treskow inszeniert „Kaspar“ für die Kammer des Theater Aachen. Für diese Art der auf den ersten Blick übertriebenen Spielweise ist Treskow in Aachen schon bekannt, erinnert man sich an „Warten auf Godot“ oder „Die Physiker“. Gekonnt wird Dynamik in die Bewegungen gebracht, die an Clownspiel, Commedia dell‘arte oder Stummfilmoptik erinnern. Dass die vier weiteren Darsteller (Marion Bordat, Elke Borkenstein, Karl Walter Sprungala, Benedikt Voellmy) komplett in schwarz auftreten, oder als Stimmen aus dem Off nur als Gesicht ohne Körper aus dem Schwarzen heraus sprechen, unterstützt die Optik und den Eindruck. Doch neben dem Körperlichen geht es in „Kaspar“ eben auch noch um pure Sprachgewalt.
Die historische Figur des unzivilisierten Findlings Kasper Hauser dient dem Autor und Literaturnobelpreisträger Peter Handke für sein Stück über die Dressur des Menschen durch Sprach- und Sprechregeln. Durch die anonymen Sprecher wirken die Wörter und die mit ihnen einhergehende Grammatik noch mehr als Drill, als unausweichlicher Zwang in der Gesellschaft zu bestehen. Lernen durch Folter könnte man es auch nennen. Erwachsenwerden durch ständiges Wiederholen. Passend die Aussage: „Du bist nicht zum Vergnügen auf der Welt!“ Gesellschaftsfähigkeit erlangt man durch totale Unterwerfung, selbst wenn die Litaneien der Einsager teils wahnsinniger Nonsens nebst philosophischen Fragen sind.
Am Ende des Abends hat sich die Sprachgewalt auf den Besucher übertragen. Man folgt Tim Knapper und den anderen Darstellern in ihren überlappenden Aufzählungen und Wortgeflechten als wäre es das Normalste der Welt. Dennoch ist man erleichtert, wenn am Ende Stille herrscht. Die Darsteller werden froh gewesen sein, dass nach der kurzen Stille ein donnernder Applaus über sie einher brach. \ Kira Wirtz
„Kaspar“
20 Uhr, Kammer, Theater Aachen
WEITEREMPFEHLEN