Hier bin ich also …“. Nichts könnte die Romanheldin Modesta besser beschreiben als diese fast unschuldig wirkenden ersten Worte aus der Feder von Goliarda Sapienza. Sie haben etwas vom erhobenen Haupt, von Selbstverständnis und eine betörende Geradlinigkeit. Nomen non semper est Omen, Modesta hält nichts von bescheidener Bodenhaftung, sie will die Leiter erklimmen, egal auf wie viele Hände sie dafür auf den Sprossen treten muss. Sie will hoch hinaus, eine, zumindest zu ihrer Zeit Anfang des 20. Jahrhunderts, durch und durch maskuline Eigenschaft. Straight forward …wie die Heldin und vom Hauch einer dezenten Opulenz umweht ist Anaïs Durand-Mauptits Inszenierung. Potenzial für viel Karacho, für eine spektakulär extrovertierte Inszenierung gäbe es reichlich. Weltkriege, verbotene Liebschaften, Exzessives. Die Regisseurin trotzt dieser Versuchung und kreiert fast schon Zärtliches, Romantisches. Ihre Bilder entfalten erst auf den zweiten Blick ihre Kraft, wie das Unheil, das sich einem auf einer Gänseblümchenwiese nähert. Sogar „die Schlacht der Genitalien“, ein Thema, das Modesta über die Jahre begleitet, findet unter dem zarten Schleier der Andeutungen und hochgeschlossenen Krägen statt, was dem Ganzen natürlich erst recht die nötige Würze gibt. Um das feine Bouquet der Inszenierung abzurunden, und wie eine Reminiszenz an vergangene Zeiten, sorgt Ausnahmekomponist Malcolm Kemp live für ein feines auditives Erlebnis. Man hört die Bilder und sieht die Klänge – ganz nah an Synästhesie.Anaïs Durand-Mauptit ist eine Illusionistin. Mit einem Hauch von Nichts schafft sie imposante Bilder, deren wahrhaftige Größe sich erst in der eigenen Phantasie entfaltet. Auf einmal ist man wieder Kind und reitet auf dem Küchenbesen in die Weite hinaus. Wie sonst sollte man den auf 735 Seiten dicht gedrängten Worten Gestalt geben, ohne von der Last der Bedeutsamkeit erdrückt zu werden. Da muss man sich ein wenig vom Boden lösen und gen Firmament streben, um die Grenze des Erträglichen nicht zu strapazieren. Aber schließlich befindet sich Modesta auch ein Leben lang knapp über dem Boden, immer etwas schwebend, so den unstillbaren Hunger nach Leben stillend. Die (un)heilige Dreifaltigkeit der Modesta Die Rolle dreifach zu besetzen war nicht nur wegen der hervorragenden Leistung der Darstellerinnen ein Glücksgriff. Sind wir nicht alle ein bisschen Modesta? Oder anders gesagt, Modesta ist viele, sie in eine Gestalt zu pressen würde ihr den Atem nehmen. Das Chorhafte ist ein spannendes Element der gesamten Inszenierung, die Einheit der Vielfalt pointiert in den Fokus gerückt. Ähnlich vielschichtig das Phänomen Zeit. Wie also mit ihr umgehen, kann man die gefühlte Zeit auf der Bühne verkörpern? Der Regisseurin gelingt das ganz hervorragend, während die prall gefüllten Jugendjahre der Heldin wie ein Bühnenwimpernschlag vergehen, wird der spätere Gefängnisaufenthalt gekonnt in die Länge gezogen, der Stuhlgang dauert gefühlt so lange wie der Krieg. Also wie im wahren Leben.
Soll man oder soll man nicht …einen Jahrhundertroman auf die Bühne bringen? Einen Stoff, der eher für eine Netflixserie geeignet ist, in drei Stunden zwängen? Unbeeindruckt von den beängstigend vielen Seiten – es muss schließlich klar sein, dass eine Adaption immer eine Reduktion ist – entführen Regieteam und Ensemble zu einem verspielt famosen Theaterabend, an dem Lust und Last eines außergewöhnlichen Lebens mit dem gebührenden Ernst und der gebotenen Leichtigkeit von der Bühnenkante gleiten. \Von Enikö Kümmel 17.3. „Die Kunst der Freude“ 19.30 Uhr, Großes Haus, Theater Aachen
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