Ein Zeppelin! Die Besucher auf der Oktoberfestwiese schauen ihm beeindruckt nach. „Jetzt werden wir bald alle fliegen“, sagt Karoline. Ihr Bräutigam Kasimir zeigt als Einziger kein Interesse. Er wurde „abgebaut“, also gekündigt, und hat gar keine Lust, das Oktoberfest zu besuchen. Seine Verstimmung führt zum Konflikt zwischen dem Paar – und schon bestimmen ökonomische Themen das Zwischenmenschliche. Karoline habe gut reden, ihre Eltern seien ja pensionsberechtigt und sie selbst Büroangestellte mit festem Einkommen, wirft Kasimir ihr vor. Er stehe jedoch ganz allein da und habe keinerlei Sicherheit.
Überzeugt, dass Karoline sich von ihm abwenden wird, weil er arbeitslos ist, beleidigt Kasimir sie und provoziert dadurch den Bruch. Karoline will sich aber vergnügen: Sie lässt sich auf den Zuschneider Eugen ein, nur um an dessen Arbeitgeber Kommerzienrat Rauch weiter gereicht zu werden. Nicht, dass sie was dagegen hätte – denn Rauch ist wohlhabend. An seiner Seite kann sie so oft Achterbahn fahren, wie sie möchte. Als Kasimir wieder auftaucht, um sich zu entschuldigen, lehnt Karoline ab. Für sie heißt es jetzt, „einen einflussreichen Mann bei seinem Gefühlsleben packen“, um eine „höhere gesellschaftliche Stufe“ zu erklimmen. Der einflussreiche Mann verspricht ihr, sie nach Altötting mit zu nehmen. Aber ist da wirklich was dran? Altötting, so gesteht Rauch seinem Freund, dem Landesgerichtsdirektor Speer, ist nirgendwo anders, als bei ihm im Bett.
Derweil lässt sich Kasimir auf die Außenseiter Franz und Erna ein. Sie planen einen Einbruch, aber es läuft schief und Franz wird festgenommen. Zurück bleiben Kasimir und Erna. Kasimir legt seinen Arm um ihre Schultern, sie ihren Kopf an seine Brust. Da kommt Karoline zurück. Aus ihrem vermeintlichen Aufstieg in die besseren Kreise ist nichts geworden. Nun ist sie es, die Kasimir zurückhaben möchte. Diesmal lehnt Kasimir ab.
Liebe als Frage der Ökonomie
„Kasimir und Karoline“ spielt nach der schweren Wirtschaftskrise von 1929. Wie Nachtfalter, die um Lichter flattern, bezirzen die Oktoberfestbesucher einander, gelockt von der Chance auf sozialen Aufstieg und einem besseren Leben. Die Figuren verändern sich und tauschen ihre Partner gegen andere, wohlhabendere, mächtigere, bessere. Die Zurückgelassenen werden zu Außenseitern und suchen nach Ersatz für das Verlorene. Zwischenmenschliche Beziehungen werden zu einer Frage der Ökonomie, das Oktoberfest zu einem Markt, auf dem nicht nur mit Bier und Wurst, sondern mit echten und falschen Gefühlen, Sex und Liebe gehandelt wird. Die Figuren sind von Abstiegsangst durchdrungen, voller Sehnsucht nach einem besseren Leben. Wohin mit dieser Sehnsucht? Die Sehnsucht von Karoline und Kasimir erfüllt sich nicht. Sie bleibt eine Illusion.
Die minimalistische Inszenierung von Michael Helle tut dem Stück von Ödön von Horváth sehr gut. Das Szenenbild besteht aus einer Rückwand voller Glühbirnen, die diverse Lichtstimmungen projizieren, ein paar Hockern und einem Boden voller Konfetti. Wenn das Wiesn-Orchester fröhliche Lieder anstimmt, entsteht ein beklemmender Kontrast zu den gar nicht heiteren Handlungselementen des Stücks. Die Schauspieler überzeugen durch die Bank weg. Thomas Hamm und Melina Psyschny spielen Kasimir und Karoline hervorragend, zum Glück gehören sie fest zum Ensemble des Theaters. Insbesondere Karl Walter Sprungala und Torsten Borm stechen hervor und sorgen als lüsternes, altes Duo für viele Lacher.
Insgesamt eine sehr gelungene Premiere! „Kasimir und Karoline“ bringt das Oktoberfest im Frühling nach Aachen. Nichts wie hin! \ bg
5.,8.,16.+28.6.
„Kasimir und Karoline“
diverse Uhrzeiten, Bühne, Theater Aachen
theateraachen.de
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