Von Richard Mariaux
Das ist ein Skandal! Prof. Dr. Saraswati ist weiß! Die öffentlichkeitsverliebte Professorin für Postcolonial Studies in Düsseldorf war eben noch die Übergottin aller, nicht nur an der Uni geführten Debatten über Identität — sie beschrieb sich selbst als Person of Colour, dunkelte ihre Haut nach und benannte sich nach der indischen Gottin Saraswati. Fiir ihre Studentin Nivedita, Bloggerin unter dem Hashtag #Identitti, bricht eine Welt zusammen. Wiihrend ihre Mitkommilitoninnen und das Netz in hassvollen Statements gegen Saraswati aufrüsten, versucht die Haupt?gur verzweifelt, eine andere Antwort auf diesen „Identitätsdiebstahl“ zu ?nden.
Die Idee zum Plot kam der Autorin Mithu Sanyal durch einen realen Fall in den USA: „2015 wurde die amerikanische Bürgerrechtsaktivistin Rachel Dolezal als Weiße geoutet. Der Fall ging damals durch alle Medien, vor allem durch alle sozialen
Medien: Eine Weiße, die sich als Schwarze ausgab — das war so unfassbar, dass das Internet vor Entrüstung explodierte. Ich wollte damals unbedingt darüber schreiben — nicht über Dolezal, sondern über die vehemente Debatte, die mich
in einer ganz merkwürdigen Form persönlich berührte — und keinen kulturwissenschaftlichen Text, weil alle Sichtweisen so wahr waren und gleichzeitig so falsch. Nur ein Roman kann all diese sich widersprechenden Stimmen enthalten.“
Und diese Stimmen sind zahlreich: Neben der sehr vieldeutigen indischen Göttin Kali als Deus ex machina, mit der Nivedita ein sich durch den gesamten Roman ziehendes stummes Streitgespräch führt, ist es vor allem ihre Cousine Priti aus England, die im Gegensatz zu ihr kein Mixed Race-Kind ist, sondern mit beiden Eltern in Birmingham in einer ausschließlich indischen Community aufwächst. Niveditas Mutter ist hingegen polnischer, ihr Vater indischer Abstammung. Ihre Identitäts?ndung wird erschwert nicht nur durch die sehr helle Hautfarbe ihrer Mutter, sondern auch durch ihren emotional schwer zugänglichen Vater. Auch dessen ehemalige Heimat Indien ist Nivedita auf den wenigen Besuchen dort fremd
geblieben. Niveditas Identität ist ungleich uneindeutiger („Coconut Woman“) als die ihrer Cousine Priti, die im Gegensatz zu ihr das größere Selbstbewusstsein hat und auch schnell die verbale Konfrontation sucht. Und dann ist da noch Raji, der undurchsichtige, von ihren Eltern adoptierte indischstämmige Halbbruder Saraswatis, der das unfreiwillige Coming Out der etablierten Schwester verantwortet.
Gleichzeitig ist dieses spritzig geschriebene Buch auch ein Diskursroman — mit Fußnoten und einer Literaturliste am Ende des Buchs, was der Komplexitat der Thematik angemessen ist. Der genialste Kniff der Autorin sind die zwischen den Text gestreuten Twitter- und Facebook-Kommentare realer Personen innerhalb von Niveditas Blog #Identitti zum vermeintlichen Skandal um die Professorin: JournalistInnen, AutorInnen, Bloggerlnnen und SchriftstellerInnen wie Lars
Weisbrod, Fatma Aydemir, Minh Thu Tran, Jacinta Nandi, Berit Glanz, Hilal Sezgin, Ruprecht Polenz, Ralf Sotscheck oder Ijoma Mangold forcieren mit ihren Kommentaren die Debatte.
Wenige Tage vor der Enttarnung der bildungsbürgerlichen Herkunft ihrer Professorin Saraswati aus einem weißen Haushalt im badischen Karlsruhe, gibt #Identitti alias Nivedita dem Deutschlandfunk ein Interview, in dem sie ihre Professorin und deren empathisches Empowerment in ihrem Uni-Kurs in den höchsten Tönen lobt. „Identitti1“ hat als mixed race superwoman eine Mission in ihrer Netzcommunity. Dass ausgerechnet sie nun so einen Shitstorm von ihren eigenen Followern abbekommt (und weniger von den Stimmen der Rechten, AfD et al.), ist eine bittere Erkenntnis ?ir sie. „Der Shitstorm, der sich an Saraswatis Enthüllung entzündet, zeigt, wie tief die ihn auslosenden Fragen gehen: Wer bin ich? Wer darf ich sein? Wer hat das Recht, dariiber zu bestimmen? Und wie wirken sich historische Unterdrückungsverhältnisse auf individuelle Entscheidungen aus? Zugleich haben wir — individuell und als Gesellschaft — wenig Ahnung, wie man konstruktiv und wertschätzend streitet. Was passiert, nachdem wir auf einen Fehler hingewiesen haben? Wie kann Versöhnung aussehen? Das alles sind wichtige Themen in meinem Buch. Denn es gibt immer ein Leben nach dem Shitstorm“, so Mithu Sanyal.
„Identitti“ verhandelt konzentriert wie unter einem Brennglas die für Minderheiten immer drängenderen Themen der Zeit: Rassismus, Migrationsgeschichte, Blackfacing, cultural appropriation, Postkolonialismus …
Sachverstand
Die Kulturwissenschaftlerin, Journalistin und Autorin Mithu M. Sanyal wurde 1971 in Düsseldorf geboren. 2009 erschien ihr Sachbuch „Vulva. Das unsichtbare Geschlecht“, 2016 „Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens“. „Identitti“ ist ihr erster Roman.
Mithu Sanyal
„ldentitti“
Hanser Verlag
432 Seiten
22 Euro
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