Nicht zuletzt durch den Krieg in der Ukraine fokussiert sich der Blick immer mehr auf diese Region: Georgien, südlicher Nachbar der Ukraine am Schwarzen Meer, hat ebenfalls eine gemeinsame Grenze zu Russland und mit den zwei – von Moskau unterstützten – abtrünnigen Provinzen Abchasien und Süd-Ossetien eine gefährliche offene Flanke. Die nicht gewaltfreie Zeit der Unabhängigkeit seit der Auflösung der Russischen Föderation bestimmt den atmosphärischen Raum in Nino Heratischwilis in Tiflis und Brüssel spielendem Roman „Das mangelnde Licht“.
Erzählt wird die Geschichte von vier Freundinnen: Sie lernen sich in einem begrünten Hof, umgeben von verschachtelten Wohneinheiten und Veranden im historischen Stadtteil von Tiflis kennen. Es ist das Jahr 1987. Bereits zwei Jahre später löst eine Sondereinheit der Roten Armee eine Massendemonstration gewaltsam auf, 16 Menschen kommen zu Tode. Dina, Keto, Nene und Ira werden mit ihren Familien auf unterschiedlichste Weise gewaltsam in die Wirren dieser und folgender politischer Ereignisse hineingezogen. Dina ist die freigeistige und selbstbewusste Anführerin der Freundinnen. Als Fotografin, später als unerschrockene Fotojournalistin im Kriegsgeschehen, wird sie europaweit Karriere machen, doch dann kriegstraumatisiert an ihrer Liebe zu zwei rivalisierenden und gewalttätigen Männern zerbrechen. Keto trifft Jahrzehnte später auf einer posthumen Retrospektive der Arbeiten von Dina in Brüssel wieder mit Nene und Ira zusammen und erzählt in vielen Rückblenden die Geschichte der vier Frauen. Nene ist eine strebsame junge Frau, die unter der unerwiderten, zugleich unausgesprochenen Liebe zu Ira leidet. Mit einem Stipendium schließt sie ein Jurastudium in den USA ab und bringt nach ihrer Rückkehr nach Tiflis als Staatsanwältin einen Prozess auf dem schmalen Grat zwischen Wahrheitsfindung und Verrat ins Rollen. Ira, privilegiert durch einen mächtigen mafiösen Onkel, schafft es zeitlebens nicht, sich von dem Diktat der archaischen, männerdominierten Welt ihrer Familie zu lösen. Zwangsverheiratet lebt sie zwar eine heimliche Beziehung, aus der ein Sohn hervorgeht, aber ein Eifersuchtsmord beendet diese Liebe auf tragische Weise.
Viele der strikt schwarz-weißen Fotos der groß inszenierten Brüsseler Retrospektive zu Dinas Arbeiten sind Schnappschüsse aus dem Leben der vier damals jungen Frauen. Wie aufflackernde Blitzlichter kehren für die drei Frauen die Erinnerungen an verschüttete Jugenderlebnisse zurück. Die Vergangenheit steht machtvoll im Raum und macht eine Aussprache dringend erforderlich. Nino Haratischwili packt für diese zwischen Lebensübermut und Verzweiflung agierenden Frauen das große Besteck aus. Reduktion der Sprache ist dabei nicht das Mittel ihrer Wahl. Eine Überzahl an Adjektiven bewegen Teile des Romans sogar sprachlich gefährlich in die Nähe von Kitsch und Klischees, vor allem, wenn es sich um die inneren Stimmen dieser heroisch dargestellten Protagonistinnen handelt. Auch die wenigen geschilderten Sexszenen sind nicht frei von schiefen Sprachbildern und wirken – ebenso wie die sexuelle Orientierung Nenes – eher verdruckst formuliert.
Die mehr als 800 Seiten des Romans geben Nino Hartischwili andererseits viel Raum für Exkursionen in die georgischen (Familien-)Traditionen dieser Zeit. Die beiden gebildeten Großmütter der Ich-Erzählerin wettstreiten um die Kulturhoheit Frankreichs und Deutschlands, zelebrieren andererseits aber ihren rituellen Aberglauben bei Krankheiten. Neben russischer Expansionspolitik, Hungersnöten, Fememorden und Bandenkriegen sorgt die aufkommende Drogenproblematik für tragische Entwicklungen bis in die Familien der Frauen hinein: So flutet der - beim kriminellen Onkel angelernte - ältere Bruder von Ira das Land mit Heroin und wird so mitschuldig am Tod des Bruders der Ich-Erzählerin. Letztlich entfaltet „Das mangelnde Licht“ zwischen den Polen (unerfüllter) Liebe und Gewalt vor dem Hintergrund der politischen Umbrüche in Georgien eine große Sogwirkung, die die Leserinnen und Leser in ihren Bann zieht. \ ⇥Von Richard Mariaux
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