Die Geschichte klingt zu absurd, um wahr zu sein. Und doch hat der an einem Provinzkrankenhaus beschäftigte US-amerikanische Pathologe Thomas Harvey 1955 nach dem Tode Albert Einsteins die Leiche obduziert und sein Hirn entnommen. Mit dem Hirn reiste er 42 Jahre lang durch die USA und sogar bis nach Moskau.
So eine Geschichte ist natürlich eine Steilvorlage für den österreichischen Autoren Franzobel, dessen stilistische Bandbreite sich keinem Genre verweigert. Sein letzter Roman „Die Eroberung Amerikas“ schaffte es 2021 auf die Longlist zum Deutschen Buchpreis.
Franzobel recherchiert den Lebensweg Harveys auf der vier Jahrzehnte umfassenden US-Reise mit Einsteins Hirn, bevor er als achtzigjähriger Hilfsarbeiter am gesellschaftlichen Abgrund strauchelt. Doch wie konnte es zu diesem Abstieg kommen?
Grund war einzig und allein seine manische Beziehung zu Einsteins Hirn. Obwohl ihn die Erben Einsteins, das US-Militär, Koryphäen der neurologischen Wissenschaft sowie seine wechselnden Ehefrauen stets aufforderten, das Hirn abzugeben, vermochte sich Harvey diesen Forderungen zu entziehen. Das kostete ihn eben diese drei Ehen und auch den Kontakt zu mehreren seiner Kinder.
Franzobel spinnt diese an sich schon krasse Geschichte genüsslich auf über 500 Seiten weiter.
Einsteins Hirn fängt an, mit Thomas Harvey zu sprechen: Das Hirn verlangt nach Sex und fühlt sich im Schattenreich des Todes einsam und intellektuell unterfordert. Harvey, überzeugter Quäker, versucht hingegen Einstein auf den Pfad Gottes zu führen. Ein No-Go für den überzeugten Atheisten Einstein.
Aber auch der – später seine ärztliche Approbation verlierende - Harvey ist ein Kämpfer. Ein Großteil von Franzobels überbordernden Fantasien und skurrilen Einfällen gilt Harveys Versuch, Einstein eine der großen Weltreligionen näher zu bringen. Doch auch das scheitert und ein Psychoanalytiker diagnostiziert dann bei Harvey Halluzinationen.
Auch die gesellschaftspolitische Situation lässt Franzobel in diesen Roman einfließen: Harvey unternimmt mit dem Einstein-Hirn eine LSD-geschwängerte Reise nach Woodstock und hat einen bizarren Auftritt auf einer Demo der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Auch dem Kalten Krieg mit der Sowjetunion trotzt Harvey mit einer heimlichen Reise nach Moskau, bei der er sich nach Einsteins Einflüstereien auf die Suche nach einer begehrten Formel in Händen einer russischen Spionin und Ex-Geliebten Einsteins macht.
Doch letztlich packt Franzobel zu viel in diesen Roman. Er schlägt immer neue Volten und fantasiert dem armen Thomas Harvey unzählige neue Begebenheiten an den Hals. Das macht „Einsteins Hirn“ leider etwas langatmig und schmälert das Lesevergnügen. / rm
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