Spätestens mit der Erfindung des Synthesizers wurde in der Populärmusik an der Musik der Zukunft gearbeitet. Man brach Traditionen und Regeln, die Kunst hatte ihre eigenen Vorstellungen von einer Zukunft – einer besseren und schlimmstenfalls dystopischen Variante. Zwar gab es bereits 1913 bei der italienischen Bewegung der Futuristen Geräuschinstrumente für bruitistische Musik, aber erst die neuen Möglichkeiten einer Technik der durchlässigen Datenströme führte zu einer innovativen Art Zukunftsmusik. Die hat der britische, in Los Angeles lebende Autor Simon Reynolds in einem sehr lesbaren Sammelband mit diversen Veröffentlichungen für Magazine wie The Wire, die New York Times, The Guardian oder das Onlinemagazin Pitchfork zusammengefasst.
Reynolds beginnt nicht von ungefähr seine Erzählung der elektronischen Musik mit Donna Summers Megahit „I Feel Love“, einer Produktion des Schweizers Giorgio Moroder, der als Blaupause für eine neue „künstliche“ Musik aus der Zukunft galt. Loops in endloser Dauerschleife, die Wiederholung bzw. Ausdehnung auf viertelstündige Maxisingles und Remixes schufen neue hypnotische Effekte auf der Tanzfläche.
Im zweiten und dritten Kapitel geht Reynolds dann direkt zu Kraftwerk und dem Yellow Magic Orchestra über – Formationen aus Europa und Japan, die mit ihren neuen Klangsprachen die Herrschaft anglo-amerikanischer Popmusik negierten und ausgerechnet als starke Einflüsse für die Entstehung von Techno, House (sowie auch HipHop) in den schwarzen Subkulturen von Städten wie Chicago, Detroit und New York dienten.
Simon Reynolds, der bereits mit Büchern wie „Retromania“, „Glam. Glitter Rock & Art Pop“, zu Post-Punk von 1978-84 („Rip It Up And Start Again“), Rave Music & Dance Culture („Energy Flash“) oder Gender, Rock und Rebellion („Sex Revolts“) quasi Standardwerke zu diversen Strömungen zeitgenössischer Musik abgeliefert hat, unterstreicht mit „Futuromania“ die hohe Qualität seiner journalistischen Arbeiten.
„Futuromania“ versammelt rund 50 Jahre elektronischer Musik. Reynolds führt uns zu den quasi religiös-hedonistischen Messen der House- und Techno-Parties, ihren Weiterentwicklungen zu Hardcore, Breakbeat, Jungle, 2-Step, Grime uvm. Sein Augenmerk gilt ebenso den damals zukunftweisenden Beats im HipHop von Timbaland oder Missy Elliot. Er schreibt über die fließenden Welten von Ambient und New Age bis hin den Avantgardisten – den Konzeptkünstlern von Throbbing Gristle, Cabaret Voltaire bis hin zu Bands wie Boards Of Canada oder den Acts vom WARP-Elektroniklabel.
Ein eigenes Kapitel widmet der Autor dem Programm „Auto-Tune“, das Anfang 2000 mit digitaler Tonhöhenkorrektur den Siegeszug durch die Popwelt antrat.
Keine Zukunft hingegen sieht Reynolds im Schlusskapitel für eben die Zukunft elektronischer Musik. Die Begeisterungsfähigkeit für die Zukunft ist nachwachsenden Generationen angesichts der vorherrschenden Talfahrt unserer Zeit sowieso dem Pragmatismus, Nihilismus, gar einer Zukunftsängstlichkeit gewichen. Die Utopie hat abgedankt. Auch in der Popmusik. (Richard Mariaux)
Simon Reynolds
„Futuromania – Elektronische Träume von der Zukunft“
Ventil Verlag
379 Seiten
30 Euro
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