In der Romanvorlage „Die Freiheit einer Frau“ erzählt der französische Autor Édouard Louis schonungslos und liebevoll von seiner Mutter, ihrem Leben und ihrer Geschichte der Befreiung. Mit ungeheurem Tempo, aber nicht minder einfühlsam bringt Tommy Wiesner das Stück auf die Bühne des Theater Aachen. Als Regisseur und Schauspieler. Bereits beim Debütroman von Louis, „Das Ende von Eddy“, hatte Wiesner diese Doppelrolle übernommen und die Aachener Theater-Gänger begeistert.
In „Das Ende von Eddy“, ebenfalls ein autobiografischer Roman, ging es um die Kindheit eines jungen Mannes und seiner Flucht aus einem spießigen nordfranzösischen Dorf. Jetzt geht es um die Flucht der Mutter aus den Fängen gewalttätiger Beziehungen, dem Dasein mit fünf Kindern, und das mittellos in einem kleinen Dorf. Schauspielerische Unterstützung bekommt er von Marion Bordat. Zusammen ergänzen sich die beiden als Mutter und Sohn, mal zweifelnd, mal wütend, mal traurig, mal glücklich. Hier werden alle Facetten dieser Mutter-Sohn-Beziehung gezeigt, das Publikum spürt Trauer, Ratlosigkeit und Liebe. In einer Art Plexiglaskäfig, der auch schon bei „Das Ende von Eddy“ zum Einsatz kam, spielen sich einige Dramen des Lebens ab. Die Euphorie im 80er-Jahre-Brautkleid zu Madonna-Mucke, der Zusammenbruch nach einer Gewalttat und jeder Menge Erniedrigungen mit der markerschütternden Frage: „Darf ich nicht auch mal glücklich sein?“
Aber auch in die Ränge und zum Publikum zieht es die Darsteller. Auf der Bühne stellt sich Bordat vors Mikro und fordert erst mutig, dann wütend den „Urlaubssozialzuschuss“ und versucht dann, Tommy Wiesners (wirklich guten) Gesang mit Wutgeschrei zu übertönen. Generell nimmt der Gesang und die gesamte Musikauswahl einen großen Teil der Inszenierung ein, unterstützt dabei die Stimmung, lässt die Figuren noch verletzlicher wirken. Aber das ist nur ein Teil der eigentlichen Inszenierung.
Was sich dem Zuschauer vor Beginn des Schauspiels bietet, ist eine Mischung aus Investigativjournalismus, wissenschaftlicher Studie und Vergangenheitsbewältigung. Wiesner hat rund 20 Mütter zwischen 20 und 99 Jahren vorab interviewt und sich ihre „Mutter-Geschichte“ erzählen lassen. Bordat hat diese gekürzt und eingesprochen und flackert so in den unterschiedlichen Rollen über diverse Bildschirme im Foyer. Ausgangspunkt ist wie im Roman ein Foto aus glücklichen Tagen und die dazugehörige Geschichte. Da ist man emotional schon mittendrin, wenn dann das Stück beginnt, hat man doch vorher gehört, wie Frauen sich als Mutter selbst sehen, was es bedeutet, neben der Rolle Frau die Rolle Mutter einzunehmen, was es für tiefgreifendere, psychische Probleme geben kann, wenn man mit dieser Rollenkombination überfordert ist. Und das Schlimmste: wie selten Frauen Hilfe oder gar Verständnis geboten wird, sondern ihnen vielmehr Missachtung und Stigmatisierung entgegenschlägt. Ein sensibles Thema, dem sich Wiesner hier annimmt. Auch aus Sicht des Sohnes, deren Rolle er einnimmt.Wie viel Schuld trägt er am Leid seiner Mutter? Woher kommt die Wut auf sie? Was hätte anders laufen können? Wiesner schafft einen kurzweiligen, brandaktuellen Theaterabend, der tief berührt und unterhält. Das Premierenpublikum ist jedenfalls begeistert, klatscht minutenlang und gibt Standing Ovations. Zu Recht.
\ kira wirtz
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